# taz.de -- Die Wahrheit: Der Untergang des Förmchens | |
> Es ist amtlich: Wegen des weltweiten Sandmangels verschwinden in | |
> Deutschland die Sandkästen. Eltern müssen sich auf Gejammer einstellen. | |
Bild: Einer der letzten seiner Art: ein spielbereiter Sandkasten | |
Es ist ein ungewöhnlich warmer Wintertag im Dezember 2017, die | |
Sonnenstrahlen machen den Sonntagnachmittag auch im Freien erträglich. | |
Yvonne Sanftleben sitzt auf einer hölzernen Bank des | |
August-Buxbaum-Spielplatzes in Darmstadt und beobachtet ihre Kinder Ophelia | |
(5) und Werner (4), die emsig im Sand buddeln. Eine beachtliche Burg mit | |
Wassergraben, Wohnturm und Ringmauer haben die beiden errichtet. Werner | |
füllt sein Förmchen und klatscht einen Sandquader in den Innenhof der Burg. | |
„Eine Kutsche!“, ruft er und schleudert das Förmchen in den Wind, der es | |
Ophelia gegen die Schläfe trägt. Kurzes Gejammer, doch nach kompetenter | |
Behandlung durch Frau Sanftleben wird die Burg wieder mit großer Freude und | |
strahlenden Augen ausgebaut. Glücklich beißt die Mutter in ihren | |
Sandkuchen. | |
Dieses Bild gehört bald der Vergangenheit an. Denn im Zuge der weltweiten | |
Sandknappheit werden die Sandkästen von immer mehr Spielplätzen gestrichen. | |
So auch in Darmstadt. Das unbekümmerte Sandeln, seit Jahrzehnten ein ebenso | |
beliebter wie alltäglicher Zeitvertreib des Nachwuchses, könnte bald schon | |
nirgendwo mehr möglich sein. | |
„Klar: Es war auch für mich nicht leicht, hier mit dem Bagger den Kindern | |
ihren Sand wegzunehmen und abzutransportieren“, erzählt Valentin Schuh, der | |
bei der Stadt Darmstadt angestellt ist. Zumal sich auch Eltern und Kinder | |
mit Sitzblockaden gewehrt hätten. „Es ist einfach schwierig, den Leuten zu | |
vermitteln, dass es Wichtigeres als das Vergnügen ihrer Kinder gibt. Aber | |
es geht hier letztendlich um das Funktionieren unserer gesamten | |
Wirtschaft“, so Schuh. | |
## Beiges Gold | |
Nicht nur die kleinen Architekten in spe hantieren gern mit dem beigen | |
Gold. Auf der ganzen Welt wird Sand gebraucht, etwa als wichtiger | |
Bestandteil von Beton und Asphalt, aber auch für Solaranlagen, | |
Computerchips und Zahnpasta. Sand ist neben Wasser der meist genutzte | |
Rohstoff. Kunststoffe, Autoreifen, Glasfaserkabel – unsere gesamte | |
Gesellschaft hat und ist auf Sand gebaut. | |
Welche Mengen der endlichen Ressource der Planet noch hergibt, ist | |
ungewiss. Jährlich werden etwa 40 Milliarden Tonnen Sand und Kies abgebaut. | |
Deshalb hat Berlin entschieden, als eine von vielen Sparmaßnahmen die | |
Sandkästen im Land einzukassieren. | |
Yvonne Sanftleben ist ob des Verschwindens der Sandkästen schockiert, zeigt | |
aber auch Verständnis für das Vorgehen: „Früher dachte ich, Sand gebe es | |
wie Sand am Meer. Ich hatte ja keine Ahnung! Anfangs war ich aufgebracht, | |
weil meine Kinder sehr klug, sehr aktiv und sehr kreativ sind und es | |
lieben, verschiedene Gebäude aus Sand zu erschaffen. Einmal hat Werner den | |
Trump-Tower im Maßstab 1:1.000 nachgebaut, das war sehr beeindruckend.“ | |
Doch Werner wird in Zukunft auf Knete ausweichen müssen. | |
Auch dem Tourismus macht der Sandmangel zu schaffen. Badegäste werden | |
gebeten, beim Abduschen nach dem Meeresaufenthalt ein Sieb zu verwenden, um | |
den kostbaren Sand nicht in die Kanalisation sickern zu lassen. An vielen | |
Stränden, etwa auf Hawaii oder bei Wladiwostok, ist es immerhin gelungen, | |
Sand durch rundgeschliffene Glaskiesel zu ersetzen, an denen sich die | |
Urlauber nur selten schneiden. | |
## Seltenes Sediment | |
An der Nordsee hingegen ist die Verzweiflung groß: Auf Sylt werden in jedem | |
Jahr Millionen Tonnen Sand aus dem Meer gebaggert, um die Küsten | |
aufzufüllen, denen über Nacht immer wieder Sand abhanden kommt. | |
Sanddiebstahl ist ein Thema. In Entwicklungs- und Schwellenländern haben | |
sich bereits kriminelle Strukturen herauskristallisiert. Wer in Indien ein | |
Haus bauen will, muss sich mit der Sandmafia gut stellen, die mit der | |
Verwaltung des seltenen Sediments zur mächtigsten Organisation des Landes | |
avancierte. Auch in Deutschland haben einige Ganoven den Sandversand nun | |
als lukratives, aber eben illegales Geschäft erkannt. | |
Dass ausgerechnet die Kinder unter dem Sandmangel und dem politischen wie | |
wirtschaftlichen Versagen zu leiden haben, ist freilich besonders bitter. | |
„Wenn die CDU in der Wüste regiert, wird der Sand knapp!“, hatte der | |
ehemalige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück anno 2013 verkündet. | |
Hierzulande hat es Angela Merkel also bereits geschafft. | |
In Darmstadt im Hause Sanftleben, ganz in der Nähe des Großen Woogs, | |
blicken Werner und Ophelia ein paar Tage nach ihrem finalen | |
Sandkastenbesuch melancholisch auf einen unförmigen Berg aus Knete, im | |
Radio läuft erst Peter Schilling („Die Wüste lebt“), dann Metallica. Eine | |
Burg wie damals im Sandkasten ist mit dem Ersatzmaterial nicht zu bauen: | |
Ständig fällt die Turmspitze ab, die Mauer bröckelt, das Fundament trägt | |
nicht. „Danke Merkel“, seufzen die Geschwister traurig. | |
12 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Cornelius Oettle | |
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