# taz.de -- Die Wahrheit: Mieder zu vermieten | |
> Der allerneueste Trend heißt Sharing Economy. Eine Reportage aus dem | |
> Inneren des Verleihwesens. | |
Bild: Viel verleihen kann Marietta Kneip bald nicht mehr, die Wohnung der Famil… | |
„Es begann mit einem Baby“, erzählt Marietta Kneip. Genauer – mit den | |
Kleidungsstücken eines Babys: Söckchen, Mützchen und Strampelanzüge, aus | |
denen die Träger ja schnell raus wachsen. Und dann? Wohin damit? Tja. | |
Sofern die Eltern des wachsenden Winzlings nicht vorhaben, gleich ein | |
weiteres Nachwuchsprojekt zu starten, das sich nicht dagegen wehren kann, | |
in die getragenen Säuglingstextilien gesteckt zu werden, werden selbige | |
überflüssig und setzen Staub an. | |
„Wir hätten die Sachen natürlich auch an unsere Freunde Marko und Anita | |
verschenken können, die erst vor kurzem Eltern geworden sind“, sagt | |
Marietta, während sie ihre zweieinhalbjährige Tochter im Arm hält: „Aber | |
das wäre auch irgendwie unfair gewesen, weil wir dann ja die ganze | |
Ausrüstung bezahlt und die beiden alles kostenfrei abgestaubt hätten. Einen | |
Anlass für ein Geschenk gab es auch nicht – ein Kind zu zeugen ist ja erst | |
mal keine besondere Leistung.“ | |
So kamen Marietta und ihr Lebensgefährte Jochen auf eine lebensverändernde | |
Idee: Sie vermieteten die kleinen Klamotten an andere Eltern, die sie dann | |
zurückbrachten, wenn das Kind zu groß wurde. Nach und nach entstand dabei | |
ein Geschäft, von dem die beiden mittlerweile leben. Und das Modell findet | |
Nachahmer: Der Kaffee- und Krempelhersteller Tchibo etwa verleiht | |
mittlerweile ebenfalls Anziehsachen für Sprösslinge. | |
## Guter Service | |
Doch Marietta und Jochen haben die ganze Sache noch etwas weitergedacht. | |
Weil die am Service von Familie Kneip interessierten Eltern immer häufiger | |
nachfragten, ob es denn auch ein paar adrette Hemden oder Blusen für sie | |
selbst zu leihen gebe, erweiterte das Paar sein Sortiment. Zunächst verlieh | |
Jochen nur seine Jacken, die er weit hinten im Kleiderschrank wieder | |
entdeckt hatte. Das lief gut. Sehr gut sogar. Marietta war begeistert und | |
zog mit: Mieder, Stiefel, Kniestrümpfe – die Leute liehen und liehen. | |
„Heute gibt es bei uns nichts, was man nicht leihen kann“, behauptet | |
Marietta und zeigt auf den Laptop, auf dem die Homepage der beiden | |
leuchtet: Fünf Euro pro Monat kostet die Leihe eines | |
Zwanzig-Liter-Kochtopfs, zwölf Euro muss hinblättern, wer Jochens | |
Rasierapparat sieben Tage lang in Anspruch nehmen möchte. In puncto | |
Textilien sind die beiden mit großem Erfolg in die Vollen gegangen: Für | |
Socken, Unterhosen und -hemden bezahlt der Leihende jeweils zwei Euro die | |
Woche, für ein Sockenpaar also vier Euro. | |
Sharing Economy erfreut sich immer größerer Beliebtheit: Nicht länger | |
werden nur Bücher, Videokassetten oder Fußballspieler ausgeliehen. Mit | |
großer Selbstverständlichkeit borgt man sich gegen geringe Gebühr etwa | |
Duschköpfe für die spritzige Abwechslung, Gartenmöbel für besondere Anlässe | |
und Bettwäsche für ganz, ganz besondere. Es ist ein Markt, der | |
mannigfaltige Möglichkeiten bietet. Marietta und Jochen waren irgendwann so | |
erfolgreich, dass sie inzwischen auch Geldbeträge verleihen. | |
## Umzugsartiger Zustand | |
„Die Erfahrungen, die wir machen, sind allerdings nicht immer positiv“, | |
räumt Jochen ein und warnt Laien vor einem unüberlegten Einstieg ins | |
Leihgeschäft. Mitunter käme es schon vor, dass Gabeln ungespült | |
zurückgegeben werden oder die Stereoanlage leicht ramponiert wiederkehrt. | |
Zudem dürfe man nicht vergessen, dass sich die Wohnung von Familie Kneip | |
praktisch ständig in einem umzugsartigen Zustand befindet. Jochen schüttelt | |
in einer Tour den Kopf, wenn er nur daran denkt: „Einmal kam ich nach Hause | |
und freute mich auf einen gemütlichen Sofaabend vor dem Fernseher – doch | |
Marietta hatte das Sofa am Mittag verliehen! Das nervt dann manchmal schon | |
ein wenig.“ | |
Alles in allem machen Marietta, Jochen und ihre Tochter Leya aber einen | |
glücklichen Eindruck. Als man sich verabschiedet, klingelt eine ältere Dame | |
an der Tür. Marietta bittet sie herein. „Ah, Sie sind Frau Donner, nicht | |
wahr?“ Die Frau nickt und verweist auf ihre Onlinereservierung. „Ja, | |
genau“, sagt Marietta und ruft nach ihrem Mann: „Jochen, Frau Donner ist | |
da!“ Schon eilt Jochen herbei, begrüßt die Kundin mit Handkuss, begleitet | |
sie zu ihrem Wagen und fährt mit ihr davon. „Wie gesagt: Bei uns gibt es | |
nichts, was man nicht leihen kann!“, ruft Marietta Kneip und winkt zum | |
Abschied durch das Loch, das bald wieder die derzeit verliehene Haustür | |
füllt. | |
17 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Cornelius Oettle | |
## TAGS | |
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