# taz.de -- Emanzipationskrimi: Sexuell erstaunlich explizit | |
> In ihrem Film „Clair Obscur“ erzählt Yeşim Ustaoğlu von der sexuellen | |
> Selbstbestimmung zweier sehr ungleicher Frauen in der Türkei. | |
Bild: Überzeugende Darstellung: Ecem Uzum als Elma. | |
BREMEN taz | Die Freiheit mit dem ganzen Körper spüren und atmen können – | |
die junge Sehnaz (Funda Eryigit) steht auf den Klippen vor dem tosenden | |
winterlichen Meer. Nassgespritzt und mit lautem Lachen fällt sie ihrem | |
Kollegen Umut (Okan Yalabik) in die Arme. Sie werden gleich eine Nacht | |
miteinander verbringen, nach der Sehnaz wissen wird, was sie bei ihrem | |
narzisstischen Lebensgefährten Cem (Mehmet Kurtulus) vermisst hat: Liebe, | |
Empathie und körperliche Lust bis zum wahren Höhepunkt. Von der Befreiung | |
unterdrückter Sexualität handelt „Clair Obscur“ (im Original: „Tereddü… | |
der mit für einen türkischen Film überraschend expliziten Sexszenen | |
aufwartet. Es ist der sechste vielbeachtete Spielfilm von Yeşim Ustaoğlu, | |
eine der derzeit wichtigsten Autorenfilmerinnen der Türkei. | |
Sie erzählt die Geschichte zweier Frauen aus gegensätzlichen Milieus. Da | |
ist die Ärztin Sehnaz, Anfang 30, die in der Psychiatrie eines Krankenhaus | |
an der türkischen Küste arbeitet und darum immer wieder längere Zeit von | |
ihrem Lebensgefährten Cem getrennt lebt. Sie macht lange Spaziergänge am | |
Meer und hat per Skype virtuellen Sex mit Cem, wenn sie nicht in ihrer | |
gemeinsamen luxuriösen Stadtwohnung am offenen Kaminfeuer miteinander | |
kochen, essen und schlafen können. | |
Und auf der anderen Seite steht die minderjährige Elmas (Ecem Uzun). Mit | |
unförmigen Kleidern und Kopftuch beschränkt sich ihr Bewegungsradius auf | |
ihren Balkon, wo sie heimlich Zigaretten raucht, und den Weg in das | |
Geschäft ihres wesentlich älteren Ehemannes, dem sie das Essen bringt, | |
bevor sie wie ein Dienstmädchen einkaufen, putzen und kochen muss. | |
Einen Hauch von Freiheit atmet sie, wenn sie einen Umweg am Meer entlang | |
nimmt, bevor sie wieder den Holzofen in der ehelichen Wohnung anheizen | |
muss. Elmas’ Abende sind geprägt von der pflegebedürftigen Schwiegermutter | |
in der Wohnung gegenüber, und ihre Nächte vom Sex im Ehebett, aus dem sie | |
sich immer wieder blutend ins Badezimmer schleppt. | |
Die geschickte Parallelmontage der beiden Geschichten erlaubt es, im | |
Verlauf die Personenschemata zu durchbrechen und die komplexe Beziehung der | |
Figuren zu begreifen. Denn auch Sehnaz und Cem sind nicht wirklich | |
glücklich, wenn sie miteinander schlafen. Weder reicht es bei ihr zu einem | |
sexuellen Höhepunkt, noch kann er danach auf seine Hardcore-Pornos | |
verzichten. | |
Nach einer Sturmnacht findet die Polizei die junge Elmas fast erfroren auf | |
dem Balkon ihrer Wohnung, die Leichen ihres Mannes und ihrer | |
Schwiegermutter liegen in ihren Betten. Traumatisiert und unter | |
Mordverdacht wird sie auf die psychiatrische Station von Shenaz gebracht, | |
wo sie in langen Therapiesitzungen versucht herauszufinden, was in der | |
Nacht geschah. | |
Was „Clair Obscur“ so berührend macht, ist das beeindruckende Schauspiel | |
der Frauen und der Verzicht auf Klischees. Der ärztlich-überhebliche Blick | |
auf die ländliche Zurückgebliebenheit der Patientin bricht sich schnell | |
beim Blick auf das eigene Spiegelbild. Regisseurin Ustaoğlu erkennt auch | |
der Mittelschicht und vor allem der emanzipierten Frau ihre Probleme zu. | |
Außerdem überzeugen die Bilder des deutschen Kameramanns Michael Hammon. | |
Hammon gelingt es unter anderem mit Naturmetaphern cineastische Momente zu | |
erzeugen, die für das aufgewühlte Innenleben der Figuren stehen. | |
## Unter männlich-aggressiver Sexualität erstickt | |
„Ich habe keine Luft mehr bekommen“, bringt Elmas in einer Therapiesitzung | |
endlich heraus, als sie von ihrer Zwangsheirat erzählt. Bildstark entfaltet | |
der Film seine Botschaft und zeigt Auswege aus dem Erdulden | |
männlich-aggressiver Sexualität, das zu Ersticken und Tod führen kann – ein | |
wahrhaftiges Clair-Obscur und mehr als nur ein ästhetisches | |
Hell-Dunkel-Spiel. Dass die Bildgewalt gelingt, verwundert nicht: Yeşim | |
Ustaoğlu ist studierte Architektin. | |
Doch mehr noch als der Entwurf von Gebäuden interessierte Ustaoğlu von | |
Anfang an die Architektur der Gesellschaft und der Kitt, der sie | |
zusammenhält. Es sind die wenig populären Themen, denen sie sich widmet und | |
die immer wieder den Verleih ihrer Filme gefährden: Ob dem schwierigen | |
türkisch-kurdischen Verhältnis in „Reise zur Sonne“ (Güneşe Yolculuk, | |
1999), der Zwangsumsiedlung türkischer Griechen vor, während und nach dem | |
Ersten Weltkrieg in „Waiting for the Clouds“ (Bulutlari Beklerken, 2004), | |
Demenz wie in „Pandora’s Box“ (Pandora’nin Kutusu, 2008) oder verbotener | |
Liebe und Schwangerschaft in „Araf – Somewhere in Between“ (2012). Die | |
weibliche Sexualität zieht sich als zentrales Motiv durch Ustaoğlus | |
Arbeiten. | |
Der repressive türkische Staat überraschte mit nationalen Fördergeldern für | |
„Clair Obscur“. Allerdings musste die Regisseurin bei den Sexszenen um | |
insgesamt zwei Minuten kürzen, um eine Altersfreigabe ab 15 Jahren nicht zu | |
gefährden und Fördergelder nicht anteilig zurückzahlen zu müssen – auch | |
eine Form der Zensur, auf die Yeşim Ustaoğlu in ihren Interviews hinweist. | |
Geblieben ist ein wichtiges Werk, an dessen Fertigstellung auch das | |
Tonstudio Chaussee in Lüneburg beteiligt war. Dank internationaler | |
Produktionsbeteiligung kann der von namhaften Festivals ausgezeichnete Film | |
nun über die Grenzen der Türkei hinaus seine Wirkung entfalten und Mut zur | |
Selbstbestimmung von Frauen machen. | |
7 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Morticia Zschiesche | |
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