Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Syrischer Journalist über die Ex-IS-Stadt: „Rakka ist nicht frei…
> Abdalaziz Alhamza war mit seiner Gruppe „Raqqa is being slaughtered
> silently“ lange die einzige unabhängige Quelle in Rakka. Der IS ist
> vertrieben, die Arbeit bleibt.
Bild: 90 Prozent der Häuser sind zerstört, sagt Alhamza – Bombensuche in Ra…
taz am wochenende: Herr Alhamza, gut drei Jahre hat das vom „Islamischen
Staat“ ausgerufene Kalifat überdauert. Im Oktober haben die Syrischen
Demokratischen Kräfte (SDF), ein Bündnis aus kurdischen,
sunnitisch-arabischen und assyrischen Milizen, das zur IS-Hauptstadt
deklarierte syrische Rakka zurück erobert. Ist Rakka jetzt frei?
Abdalaziz Alhamza: Nein: 90 Prozent der Gebäude in Rakka sind zerstört,
Tausende Zivilisten sind gestorben. Wer überlebt hat, hat Freunde und
Familie verloren. So hatten wir uns die Befreiung nicht vorgestellt.
Raqqa is being slaughtered silently (RBSS) hat bisher vor allem die
Verbrechen des IS dokumentiert. Was bedeutet die Vertreibung des IS für
Ihre Arbeit?
Wir arbeiten weiter wie bisher. Der IS ist weg, aber wir haben jetzt eine
neue Gruppe in der Stadt, die Menschenrechtsverletzungen begeht: die SDF.
Die kurdisch-dominierte SDF sind keine religiösen Fanatiker.
Aber auch sie begehen Verbrechen, außer uns berichtet nur kaum jemand
darüber: sie brennen Häuser nieder, vertreiben Menschen aus ihren
Wohnungen, die oft eh nur noch Ruinen sind. Zivilisten werden willkürlich
festgenommen, Kinder werden gezwungen, sich der Armee anzuschließen.
Kinder, die ihr Leben lang nie etwas anderes gesehen haben als Besatzung,
wurden erst vom IS zwangsrekrutiert, jetzt sollen sie für die SDF gegen den
IS kämpfen.
In Deutschland werden die SDF als Befreier gefeiert. Beweise, dass die SDF
so brutal morden wie der IS, gibt es bisher nicht.
Aber auch sie scheren sich nicht um Menschenrechte. Das zeigen unsere
Aufnahmen und Berichte. Rakka wird nicht frei sein, bevor nicht die Bürger
von Rakka die Macht übernehmen.
Die BBC hat gerade berichtet, dass US-Militärs und die Kurden hochrangigen
IS-Leuten freies Geleit aus Rakka gewährt haben. Bestätigen das Ihre
Recherchen?
Ja, wir hatten schon vor der BBC darüber getwittert. Nur finde ich, dass
dieses Abkommen viel früher hätte greifen müssen. Es macht mich sauer, das
sie den IS so spät haben gehen lassen. Hätten die Militärs dem IS gleich
zu Beginn ihrer Offensive auf Rakka freies Geleit gegeben, hätten Tausende
Zivilisten gerettet werden können. Aber nein, man hat zugesehen, wie der IS
wochenlang Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzt hat, wie er sie
an die Kanonen verfüttert hat. Das zeigt, dass die Zivilisten der
internationalen Gemeinschaft egal sind.
Wie arbeiten Sie zurzeit?
Immer noch so wie unter der IS-Herrschaft: Unsere Gruppe besteht aus 27
Leuten – 17 sind in Rakka, 10 leben im Ausland, die meisten in Deutschland.
Unsere Kollegen in Rakka fotografieren und filmen heimlich. Über Satellit
senden sie ihr Material an uns. Wir veröffentlichen es bei Facebook,
Twitter, YouTube, auf Englisch und Arabisch. Genau wie der IS will auch die
SDF uns an unserer Arbeit hindern. Unsere Kollegen in Rakka leben im
Untergrund, wir kommunizieren verschlüsselt. Die SDF würden sie verhaften,
wenn sie sie finden würden.
Sie haben RBSS 2014 gegründet. Wie war Ihr Leben vor der Revolution?
Nicht besonders aufregend. Ich war für ein Biochemie-Studium an der Uni in
Rakka eingeschrieben. Rakka war eine liebenswerte Stadt: nicht so groß und
aufregend wie Damaskus, aber lebendig. Wenn du unterwegs warst, hast du
ständig Leute getroffen, zusammen eine geraucht oder gequatscht. Ich war
kein besonders religiöser oder politischer Mensch, auch mit Journalismus
hatte ich nichts zu tun. Dann kam die Revolution.
Und Sie gingen mit auf die Straße?
Nein, ich saß am Computer. Ich habe mit Freunden eine Facebook-Seite
aufgesetzt, wo wir dokumentiert haben, wann wo welche Demo stattfindet.
Dreimal wurde ich dafür festgenommen, mal für 7, mal für 45 Tage. In einer
Zelle so groß wie ein Kleiderschrank.
2014 marschierte der IS in Rakka ein und erklärte die Stadt zur Hauptstadt
des Kalifats. War Ihnen sofort klar, was das bedeutete?
Es wurde mir klar, als der IS in meine Wohnung einbrach und mich mitnehmen
wollte. Zum Glück war ich nicht zu Hause. Ich bin in die Türkei geflohen
und weiter nach Deutschland.
Wie leben Sie heute in Deutschland?
In einer Wohnung an einem geheimen Ort. Mir wurde dauerhafter Polizeischutz
angeboten, aber das möchte ich nicht. Es würde mich zu sehr einschränken.
Nur bei öffentlichen Auftritten bekomme ich Polizeischutz. Schlimmer als
den Polizeischutz finde ich aber den Berliner Winter. Es ist jetzt mein
dritter, aber ich habe mich immer noch nicht an ihn gewöhnt, zu grau und
trostlos.
Sie beschreiben Ihre Arbeit als Bürgerjournalismus. Was meinen Sie damit?
Die Leute brauchen ein Label, wenn sie über uns sprechen. Mal sind wir
Aktivisten, mal Journalisten, mal Menschenrechtler. Ich finde den Begriff
Bürgerjournalist gut, weil er sagt: Wir waren Bürger und wurden
Journalisten, ohne dass wir das professionell gelernt haben. Dieser
Journalismus ist in Krisenregionen entstanden, weil die Redaktionen der
internationalen Medien dort niemanden hinschicken. Bürger mit ihren
Smartphones sind oft die einzigen Quellen in den Regionen. Und die sind
wichtig: In Syrien gab es lange nur noch die Regimemedien von Assad und
die Bilder des IS.
Arbeiten Sie mit internationalen Strafverfolgungsbehörden zusammen?
Unser ganzes Material ist öffentlich: Tausende Videos und Fotos. Jeder kann
es nutzen. Und es sind nicht nur Medien, die sich an unserem Material
bedienen: Google hat seinen Suchalgorithmus damit gefüttert, um ihm
beizubringen, was extremistische Inhalte sind. Damit die Suchmaschine
lernt, was für Bilder sie nicht ausspuckt, weil sie zu grausam sind.
Alle Videos, die Sie veröffentlichen, haben Sie vorher gesehen. Sie zeigen
Erschießungen, Erhängungen, verhungernde Kinder, Folter, Leichen, die auf
den Straßen von Rakka an Masten hängen. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Ich habe nicht gezählt, wie viele Morde ich in den letzten Jahren gesehen
habe. Diese Bilder sind für mich irgendwie normal geworden. Schlimm war es,
das live mit ansehen zu müssen, als ich noch in Syrien war. Eine Zeit lang
hatte ich psychologische Hilfe, aber das habe ich abgebrochen.
In dem Dokumentarfilm „City of Ghosts“, der, erst in den Kinos, jetzt bei
Amazon zu sehen ist, sagen Sie über den IS: „Entweder wir gewinnen, oder
sie bringen uns alle um“. Jetzt ist der IS vertrieben. Haben Sie gewonnen?
Ja. Vielleicht noch nicht zu 100 Prozent, aber wir sind auf dem Weg
dorthin. Der IS hat sich viel Mühe gegeben, uns zu stoppen: Sie haben
unsere Kollegen getötet, bedrohen uns, sie haben unsere
Satellitenverbindungen gestört, haben das Fernsehen und das Internet aus
Rakka verbannt, aber sie haben uns nicht zum Schweigen gebracht.
Auch hier in Berlin werden Sie immer wieder bedroht vom IS. Haben Sie keine
Angst?
Am Anfang der Revolution hatte ich Angst, aber da war ich gerade einmal 20
Jahre alt. Jetzt habe ich keine mehr. Ich tue etwas, an das ich glaube.
Lieber sterbe ich bei dem, an das ich glaube, als in einem Autounfall.
Seit Anfang dieser Woche hat die UNO die Friedensgespräche in Genf
wiederaufgenommen. Was erhoffen Sie sich?
Nicht viel. Diese Gespräche laufen seit Jahren, heraus kommt immer
dasselbe: nämlich nichts. Für die internationale Gemeinschaft sind die
Flüchtlinge das größte Problem, aber sie erkennt nicht, dass die meisten
Syrer vor Assad geflohen sind, nicht vor dem IS. Wenn man möchte, dass die
Flüchtlinge zurückkehren, muss man Assad stürzen. Aber ich sehe nicht, dass
irgendjemand außerhalb Syriens das wirklich will. Weder der Westen noch
Putin oder Erdoğan.
3 Dec 2017
## AUTOREN
Anne Fromm
## TAGS
Lesestück Interview
Schwerpunkt Syrien
Kurden
„Islamischer Staat“ (IS)
Rakka
Syrischer Bürgerkrieg
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Syrien
Lesestück Meinung und Analyse
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Syrien
Kurden
Schwerpunkt Syrien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Nach der Befreiung vom IS: Rakka, zerstörte Perle am Euphrat
Die Terrormiliz Islamischer Staat hinterließ in der syrischen Stadt Minen,
Tod und Ruinen. Langsam kehrt nun das Leben zurück.
Syriens Kurden stimmen ab: Zur Wahl steht ein neues System
Unabhängig von Präsident Baschar al-Assad finden im Nordosten des Landes
lokale, regionale und nationale Wahlen statt.
Debatte Krieg in Syrien: Ein Ende des Tötens?
Russland, Iran und Türkei könnten den Waffenstillstand in Syrien
herbeiführen. Demokratie wird es nicht geben, aber vielleicht ein bisschen
Frieden.
UNO-Berichte zur Lage in Syrien: Keine einzige „sichere Region“
Bei der UNO stoßen Erwägungen zur Rückführung syrischer Flüchtlinge auf
Unverständnis. Sichere Gebiete gebe es in dem Land nicht.
Nach Zurückeroberung von Rakka: Wohin ist der IS verschwunden?
Hunderte IS-Kämpfer durften mit Wissen des US-Militärs aus Rakka abziehen,
um Blutvergießen zu verhindern. Die Türkei kritisiert die Vereinbarung.
Treffen Putins und Erdogans in Sotschi: Poker um die Aufteilung Syriens
Putin und Erdoğan sind sich uneins über die Zukunft Syriens. Sie streiten
vor allem darum, ob die Kurden mit einbezogen werden sollen.
Syrien-Tagebuch Folge 6: Lehrer zwischen Regime und IS
In der Stadt Rakka im Nordosten Syriens wollen die Dschihadisten das
Schulwesen umkrempeln. Sie führen einen neuen Lehrplan ein.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.