# taz.de -- Syriens Kurden stimmen ab: Zur Wahl steht ein neues System | |
> Unabhängig von Präsident Baschar al-Assad finden im Nordosten des Landes | |
> lokale, regionale und nationale Wahlen statt. | |
Bild: Registrierung in Kamischli für die Regionalwahl am 1. Dezember | |
Kamischli taz | An einer der staubigen Straßen im Zentrum Kamischlis, einer | |
der größten Städte im mehrheitlich kurdischen Norden Syriens, steht | |
Abdulkerîm Abduwaheb, Vater von drei Kindern, vor einem weißen Zelt und | |
verteilt Flyer. Denn in Nordsyrien, genauer gesagt der Demokratischen | |
Föderation Nordsyrien, wird gewählt. Am 22. September fanden Lokalwahlen | |
statt, am 1. Dezember Regionalwahlen und im Januar wird der Demokratische | |
Volkskongress der im vergangenen Jahr ausgerufenen Föderation gewählt. | |
Abduwaheb betreibt bereits seit einigen Wochen Wahlkampf, nicht für eine | |
Partei, nicht für sich, wie er sagt, sondern für die Wahlen an sich. „Als | |
im Juli 2012 die Revolution losging, wer hätte da gedacht, dass wir heute | |
hier stehen und offen für ein demokratisches System werben können“, sagt | |
Abduwaheb. „Bei diesen Wahlen geht es nicht um irgendwelche Köpfe, es geht | |
darum, ein System zu wählen“. | |
Es ist ein Wahlkampf ohne Gesichter, in den Straßen hängen lediglich | |
Aufrufe zur Wahl und Werbung für Parteilisten. „Wir müssen den Leuten klar | |
machen, wie wichtig diese Wahlen sind. Jahrzehntelang gab es keine | |
Demokratie in Syrien, das ist ein großer Schritt“, betont der | |
Familienvater. | |
Nachdem sich das Assad-Regime 2012 weitestgehend aus Rojava, wie die Kurden | |
den Norden Syriens nennen, zurückgezogen hatte, bildete sich schnell ein | |
Netz aus basisdemokratischen Räten, Kommissionen und Kooperativen. | |
Abduwaheb ist in seiner Kommune, wie Nachbarschaften mit einer Anzahl von | |
meist 100 Haushalten bezeichnet werden, im Volksrat aktiv. „Wir kümmern uns | |
dort selbst um alles, was so anfällt, von der Wasserversorgung bis zu | |
Sanierung der Schule.“ | |
## Kurden streben keine Abspaltung von Syrien an | |
Für verschiedene Lebensbereiche sind in der Kommune unterschiedliche | |
Kommissionen zuständig. Wenn es zu Konflikten kommt, werden sie, soweit | |
möglich, von einem Konsenskomitee gelöst. Eine Wirtschaftskommission | |
kümmert sich um den Aufbau von Kooperativen. | |
Doch längst nicht alle gesellschaftlichen Probleme lassen sich auf | |
kommunaler Ebene lösen, weswegen die Wahlen abgehalten werden. Bei der Wahl | |
am 1. Dezember traten in der Region Kamischli Vertreter von 26 Parteien an, | |
die zwei Listen bildeten, eine eher links und eine | |
kurdisch-nationalistische. Der Volkskongress, der im Januar gewählt wird, | |
soll 300 Mitglieder haben, darunter mindestens 150 Frauen. | |
Im Gegensatz zu dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum im Nordirak | |
streben die syrischen Kurden jedoch keine Loslösung von Syrien. Auch | |
Abduwaheb antwortet auf eine entsprechende Frage mit einem klaren Nein. | |
„Die Idee des Nationalstaates hat zu Assimilierung, Vertreibung und | |
Völkermorden geführt. Die Idee des Nationalstaates bedeutet | |
Vereinheitlichung, aber der Nahe Osten ist bunt. Es muss deshalb darum | |
gehen, die zentrale staatliche Macht durch demokratische selbst verwaltete | |
Strukturen zu ersetzen.“ | |
Die ideologische Grundlage des Systems der Demokratischen Föderation | |
basiert auf dem Konzept des inhaftierten Mitbegründers der Kurdischen | |
Arbeiterpartei in der Türkei (PKK), Abdullah Öcalan. Sein | |
Gesellschaftsentwurf des Demokratischen Konföderalismus sieht eine Vielzahl | |
direktdemokratischer Strukturen vor, die sich unter einem gemeinsamen Dach | |
zusammenschließen. | |
## Nicht alle unterstützen das neue politische System | |
Doch die Umsetzung stößt auch auf Probleme. Nicht alle akzeptieren das | |
politische System, zumal es unter den Kurden Rojavas auch Anhänger von | |
Masud Barsani, dem autokratischen Regierungschefs der kurdischen | |
Autonomieregion im Nordirak, gibt. | |
Viele Barsani-Anhänger verweigern die Teilnahme an den Versammlungen der | |
Kommunen und Räte, plädieren für einen Kurdenstaat und eine enge Anbindung | |
an die USA und andere westliche Mächte. Mit der KDP-S | |
(Kurdisch-Demokratische Partei-Syrien) hat Barsanis Partei auch einen | |
Ableger in Rojava. Die Konkurrenz zwischen dem System Rojavas und dem | |
Barsanis geht derweilen so weit, dass Letzterer immer wieder Embargos über | |
die Demokratische Föderation Nordsyrien verhängt. | |
Auch ethnische Spannungen sind in Rojava nach wie vor nicht vollständig | |
ausgeräumt. Teile der arabischen Bevölkerung stehen dem System nach wie vor | |
skeptisch gegenüber. Gerade arabische Großgrundbesitzer fürchten um ihr | |
Land. Hafes al-Assad, der verstorbene Vater von Präsident Baschar al-Assad, | |
beschloss 1965 den Aufbau eines „arabischen Gürtels“: In einem 15 Kilometer | |
breiten Gebiet entlang der syrisch-türkischen Grenze wurden systematisch | |
arabische Familien angesiedelt und kurdische Familien vertrieben. | |
Manche Araber treibt nun die Angst um, dass es ihnen genauso ergehen | |
könnte. Doch bisher kam es weder zu Vertreibungen noch zu Enteignungen, wie | |
ein Bericht des UN-Menschenrechtsrats vom März 2017 belegt. Ob die | |
arabische Bevölkerung das neue System inzwischen akzeptiert, wird ihre | |
Beteiligung an den Wahlen zeigen. | |
## Quoten nach Geschlecht und Minderheit | |
Derzeit hat der Wahlkampf die Stadt Kamischli fest im Griff. In jedem | |
Viertel finden Veranstaltungen statt. Doch der Krieg ist trotz aller | |
Wahleuphorie nach wie vor allgegenwärtig. Abdulkerîm Abduwaheb streicht | |
über das Display seines Smartphones, das Hintergrundbild zeigt einen seiner | |
Söhne, er fiel vor dreieinhalb Monaten bei der Schlacht um Rakka. Die Front | |
verläuft rund vier Autostunden südlich von Kamischli. | |
Hediye Yusuf ist Kopräsidentin des 31-köpfigen konstitutiven Exekutivrats | |
der Demokratischen Föderation Nordsyrien. Kritikern zufolge wird der Rat | |
jedoch von der Partei der Demokratischen Einheit, der PYD, einer | |
Schwesterorganisation der PKK, dominiert. | |
„Wir wollen Anerkennung für unser System“, sagt sie und schenkt Tee ein. | |
„Wir wollen auf Augenhöhe über die Zukunft Syriens und des Nahen Ostens | |
verhandeln. Die Gründung des Demokratischen Volkskongresses ist ein | |
notwendiger Schritt in diese Richtung.“ | |
Die Föderation sei inzwischen zu einer Kraft geworden, die nicht mehr | |
ignoriert werden könne, erklärt Yusuf. Sie hat auch am Wahlgesetz | |
mitgewirkt. Es sieht vor, dass Minderheiten in den Räten entsprechend | |
vertreten sind. Für Geschlechter, ethnische Gruppen und religiöse | |
Minderheiten gibt es feste Quoten. „Syrien war lange ein System einer | |
Partei, einer Stimme, einer Sprache“, sagt Yusuf. „Zumindest im Norden ist | |
das jetzt Geschichte.“ | |
## Der Krieg ist nicht weit weg | |
Wer durch Kamischli fährt, merkt schnell, wie verworren die Lage ist. Klebt | |
in einem Straßenzug Werbung für die Regionalwahlen an den Stromkästen, | |
blicken einem im alten Regierungsviertel riesige Konterfeis von Baschar | |
al-Assad und seinem Vater Hafid an – einige Straßenzüge werden immer noch | |
vom Regime kontrolliert. | |
Wie werden sich die Beziehungen mit dem Assad-Regime entwickeln, sobald der | |
IS, der gemeinsame Feind, besiegt ist? „Nun“, sagt Yusuf und überlegt kurz, | |
„wir werden den syrischen Staat zur Demokratisierung zwingen.“ Ungeachtet | |
türkischer Drohungen mit einem Einmarsch gibt sich Yusuf gibt | |
zuversichtlich: „Wir bauen hier ein neues Gesellschaftsmodell auf, das den | |
Menschen im ganzen Nahen Osten und darüber hinaus eine andere Zukunft | |
bietet. Das hier ist erst der Anfang.“ | |
18 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Anselm Schindler | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Syrien | |
Rojava | |
Kurden | |
Schwerpunkt Syrien | |
Schwerpunkt Syrien | |
Lesestück Interview | |
Nordirak | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Syrien-Verhandlungen in Genf: Sie reden nicht miteinander | |
Auch die achte Runde der Genfer Syrien-Gespräche geht ohne Ergebnis | |
auseinander. Der UN-Vermittler macht die Assad-Regeirung dafür | |
verantwortlich. | |
UNO-Appell für Syrien-Flüchtlinge: Streumunition und Minen bleiben | |
Selbst wenn in Syrien ein Waffenstillstand käme: Das UNHCR braucht 3,7 | |
Milliarden US-Dollar für 18 Millionen Notleidende aus dem Krieg. | |
Syrischer Journalist über die Ex-IS-Stadt: „Rakka ist nicht frei“ | |
Abdalaziz Alhamza war mit seiner Gruppe „Raqqa is being slaughtered | |
silently“ lange die einzige unabhängige Quelle in Rakka. Der IS ist | |
vertrieben, die Arbeit bleibt. | |
Kurden im Nordirak: Opposition fordert Barsanis Rücktritt | |
Sie reagiert damit auf den Verlust großer Gebiete an die Zentralregierung | |
in Bagdad. Viele Kurden geben Barsani eine Mitschuld an dem Debakel. |