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# taz.de -- US-Industriestadt Detroit: Die Macht des Pizza-Clans
> In Detroit markierten die Unruhen von 1967 den Beginn des Niedergangs.
> Noch heute ist die „Motor City“ geprägt von Spannungen.
Bild: Unverkennbarer Charme: Detroit City (Archivbild 2015)
„Oh, you’re from Germany“, sagt Martha Reeves, „was bedeutet dieses Lied
auf Englisch?“ Dann fängt sie an zu singen: „Die We-helt der großen
Lie-he-be“. Wie viele Motown-Sängerinnen musste auch Reeves ihre Lieder auf
Deutsch singen, als sie in den Sechzigern mit ihrer Girl-Group Martha and
the Vandellas durch Europa tourte. Ein halbes Jahrhundert später treffe ich
sie zufällig in einer ehemaligen Bar für US-Army-Veteranen in
Midtown-Detroit, in der Nähe der Kunstmuseen und der Universität.
An der Wand hängen Wimpel und angerostete Maschinengewehre, aus der Jukebox
kommt Musik für Lokalpatrioten: Punkrock von Iggy Pop und Funk von
Parliament/Funkadelic. Auf den Sofas sitzen diejenigen, denen man die
Wiedergeburt Detroits anrechnet: Studenten und Kreativarbeiter. Heute
wohnen und arbeiten sie in der Innenstadt, die viele ihrer Vorfahren ab
Mitte der Sechziger verlassen haben.
50 Jahre zuvor, am 23. Juli 1967, stand Martha Reeves zwei Kilometer
südlich in Downtown auf der Bühne des Fox Theater. Gerade hatte sie ihren
Hit „Dancing in the Streets“ gespielt, jetzt musste sie das Publikum
auffordern, das Gebäude so schnell wie möglich zu verlassen. In der
gleichen Nacht waren Unruhen ausgebrochen, nachdem die Polizei bei einer
Razzia in einer illegalen, überwiegend von Schwarzen besuchten Kneipe
willkürlich Gäste verhaftet hatte. Die Nationalgarde rückte an, während der
einwöchigen Unruhen starben 43 Menschen, über 2.000 Gebäude wurden
zerstört. Und Reeves’ Song „Dancing in the Streets“ wurde vom harmlosen
Popsong zum Soundtrack des Aufbegehrens.
„Für viele sind die Unruhen von 1967 bis heute eine offene Wunde“, erzählt
Joel Stone von der Detroit Historical Society, als ich vor wenigen Wochen
die „Motor City“ besuche. In Detroit selbst markiert diese Woche im Juli
1967 den Beginn des Niedergangs der Stadt. „Negative Entwicklungen hatten
schon 20 Jahre zuvor eingesetzt“, erläutert Stone, „aber die Unruhen haben
diese beschleunigt.“
Eine Folge der Entwicklung war der „White Flight“, der Wegzug der weißen
Bevölkerung in die reichen Vororte. 1960 betrug der weiße
Bevölkerungsanteil der Stadt noch 70 Prozent, 1970 war er auf 55 Prozent
gefallen. Der Niedergang der Automobilindustrie tat ein Übriges. Seitdem
hat sich die Bevölkerung Detroits auf zuletzt 700.000 halbiert. 83 Prozent
der Detroiter sind afroamerikanisch, rund ein Drittel lebt unterhalb der
Armutsgrenze.
## Riots wieder präsent
2017 sind die Riots wieder im Stadtbild präsent. Die städtischen Museen
widmen dem Sommer 1967 eine Reihe von Ausstellungen. Im Museum of
Contemporary Art (Mocad) konzentriert man sich auf Popmusik. „Viele
Detroiter denken an Songs von James Brown, Aretha Franklin und Marvin Gaye,
wenn sie über die Riots sprechen“, berichtet die Kuratorin Robin Williams.
In ihrer Schau „Sonic Rebellion“ stehen dokumentarische Fotos der
White-Panther-Party-Mitbegründerin Leni Sinclair neben Dokumenten des
Jazzmusikers Griot Galaxy. Fotos zeigen schwarze Männer auf der Tanzfläche
eines Underground-Gay-Clubs beim Voguing, ein Turm aus Boomboxen spielt
Stimmen von Detroitern. „Man bezeichnete sich nicht als ‚schwarz‘. Der
Selbsthass war damals so groß, dass dieses Album wie der Durchbruch in eine
andere Dimension erschien“, erzählt eine Detroiterin über „Say it loud –
I’m Black and I’m Proud“ von James Brown.
Die afroamerikanische Musikszene der Stadt setzte dem Niedergang utopische
Bilder der Zukunft entgegen – wie auf den Covern des Techno-Labels
Underground Resistance, die den Abschluss der Ausstellung bilden. „Uns
interessiert, wie Musik den Weg in die Zukunft weisen kann“, sagt Robin
Williams. Denn was als die Wiedergeburt von Detroit bezeichnet wird, folgt
einer nostalgischen Hipster-Ästhetik.
Einen Straßenblock vom Mocad entfernt hat der Blues-Musiker Jack White in
Midtown ein Presswerk für Schallplatten eröffnet. Im dazugehörigen Laden
lassen sich Wiederveröffentlichungen alter Blues-Klassiker erwerben,
nebenan befindet sich eine Craft-Beer-Kneipe, auf der Rückseite eine
Eso-Fairtrade-Bäckerei. Geschäfte wie diese symbolisieren den Aufstieg der
Stadt, nachdem Detroit als Folge der letzten Wirtschaftskrise 2013 Bankrott
anmelden musste. Seitdem hat sich ein Kleinunternehmertum angesiedelt, das
versucht, das gute Leben mit dem Kapitalismus zu verbinden.
Es funktioniert: Am Wochenende kommen Besucher aus den reichen Vororten in
die Innenstadt, auch Whites Presswerk hat volle Auftragsbücher. Aber gegen
den strukturellen Rassismus – das unterfinanzierte Schulsystem, den
fehlenden öffentlichen Nahverkehr, die Armut – am nördlichen Ende des
deindustrialisierten Rust Belt können auch Craft Beer und Vinyl kaum etwas
ausrichten. Die Bettler in Detroit, sie sind schwarz.
Ein paar Tage nach meinem Museumsbesuch stehe ich vor der Gittertür eines
Gewerbegebäudes im Detroiter North End. Früher hat es der
Wäschereiarbeiter-Gewerkschaft gehört, jetzt ist es das Hauptquartier des
Techno-Kollektivs Underground Resistance. Gegenüber hat der
Deephouse-Produzent Moodyman sein Studio, auch der DJ Theo Parrish hat sich
in der Nachbarschaft angesiedelt. Kurz nach mir betritt ein älterer
Afroamerikaner mit einer Alienkrawatte das Gebäude, und der UR-Mitbegründer
Mike Banks kommt aus dem Grinsen nicht mehr heraus.
Der Besucher ist der Lokalheld „The Electrifying Mojo“, ein Radio-DJ, der
in seiner Sendung „Midnight Funk Association“ einst in den Achtzigern als
erster Prince und Kraftwerk gespielt hat. Viele Detroiter
Techno-Produzenten haben zu seinen Stammhörern gehört. „Mojo spielte alles
zusammen. Auf einmal haben Weiße und Schwarze gemerkt, dass da jemand ist,
der die Musik spielt, die sie mögen. Das ist seine Leistung“, erzählt
Cornelius Harris, der Labelmanager von Underground Resistance.
Das Kollektiv veranstaltet Autorennen in der Stadt und lädt Schulklassen
ins Studio ein. „Viele Kids interessieren sich nicht für [1][Techno]“,
erläutert Harris. „Aber wenn sie hier rausgehen, sollen sie sagen: ‚Ich
will Doktor oder Anwalt werden. Und hier gibt es Schwarze, die wie ich
aufgewachsen sind und all diese coolen Sachen gemacht haben.‘“ Seit Anfang
der Neunziger betreiben Underground Resistance die Mischung aus
Techno-Kleinunternehmertum und Community-Arbeit schon.
Und langsam finden sie damit Gehör bei der Stadtverwaltung. Im Sommer war
der Detroiter Bürgermeister zu Besuch im UR-Hauptquartier, sie sind
Mitglied in der städtischen Entertainment Commission. „In Detroit wartet
man immer noch auf einen Erlöser, der die Jobs zurückbringt“, schildert
Cornelius Harris. „Aber vielleicht sollte man den Leuten lieber beibringen,
unabhängig von großen Firmen zu sein.“
## Unterhaltungsfabrik als Erlöserfigur
Als eine dieser Erlöserfiguren hat in Detroit gerade eine
Unterhaltungsfabrik gebaut. Am ersten Tag meines Besuchs stehen
Polizeiwagen und etwa 200 Demonstranten vor der neu erbauten Little Ceasars
Arena in Detroit. Sie protestieren gegen einen Auftritt des Redneck-Rockers
Kid Rock, der die riesige Konzerthalle mit sechs Gigs eröffnen soll. Die
Demonstranten rufen „No Justice, No Pizza“ – keine Pizza ohne Gerechtigke…
–, ein Slogan gegen die milliardenschwere Ilitch-Familie, der neben der
Pizzakette Little Caesars auch die Detroiter Eishockey- und Baseballteams
gehören.
Für den Bau der 860 Millionen Dollar teuren Little Caesars Arena haben die
Ilitchs über einen Zeitraum von 15 Jahren über 100 Häuser aufgekauft. Diese
ließen sie verfallen, damit die Immobilienpreise in der Gegend nicht
stiegen und die Ilitchs günstig weitere Grundstücke kaufen konnten.
Anwohner protestierten gegen das Vorgehen, die Stadt Detroit bezuschusste
die Ilitchs für den Bau der Arena mit 300 Millionen Dollar. „Manchmal
fragen Leute uns: ‚Techno war riesig – wie könnt ihr da noch Underground
Resistance sein?‘“, kommentiert Cornelius Harris den Bau der Arena. „Und
dann sagen wir: Schaut euch um.“
Hinterher schickt mich Harris in die angrenzende Gegend des North End.
Soul-Diva Aretha Franklin und Funk-Erfinder George Clinton haben früher
hier gewohnt, heute stehen dort große Villen neben noch größeren Brachen.
An der Oakland Avenue gehe ich in eine ehemalige Autowerkstatt und stehe
vor einer golden lackierten Mischung aus UFO und Priesterkanzel. „Das ist
das Mothership, eine Hommage an George Clinton“, sagt Jean-Louis Farges.
Farges lebt seit acht Jahren in Detroit und ist Mitbetreiber des Kunstraums
One Mile, wo das Mothership seine Heimat hat. Dort treffe ich auch den
Musiker Onyx Ashanti. Er hat sich mit dem 3-D-Drucker eine Art Skelett
gedruckt, das er über seine Arme und Hände streift, um damit seine
Musiksoftware zu steuern. „Eigentlich kann man damit alles machen – sogar
Texte schreiben“, erklärt er.
Bald nach meiner Ankunft herrscht Aufbruchstimmung im One Mile. Wir machen
uns auf den Weg nach Highland Park in den Norden Detroits. Hier wurde die
Automarke Chrysler gegründet, Ford hat hier zum ersten Mal Autos am
Fließband gebaut. Mittlerweile ist das Ford-Werk geschlossen, Chrysler hat
seinen Firmensitz verlegt und Highland Park ist eine der ärmsten Gegenden
Detroits. „Willkommen in Ohana Gardens“, sagt Ashanti, als wir vor seinem
Wohnsitz ankommen – zwei Reihen renovierter Häuser, in denen früher
Ford-Arbeiter gewohnt haben. Heute leben hier überwiegend afroamerikanische
Armeeveteranen. Ashanti geht in ein Gewächshaus auf dem Nachbargrundstück.
„Probier das mal“, sagt er und gibt mir eine Blüte. Sie schmeckt scharf. In
Detroit können Hausbesitzer angrenzende Grundstücke bepflanzen, wenn sie
verfallene Häuser renovieren. In Ohana Gardens ist so eine Urban Farm
entstanden.
Der Innenhof der Reihenhäuser füllt sich: Ein Doktorand, der über die
Creative Industries in Detroit forscht, kommt vorbei, ein afrikanischer
Drummer, ein paar französische Designer, die gerade zu Besuch sind – und
die Bewohner von Ohana Gardens. Wir trinken Limonade und essen vegane
Burger. Ashanti improvisiert mit seinem Skelett digitale Soundwolken, die
Jazz-Musiker addieren Rhythmus und Textur – ein afrofuturistisches
Free-Jazz-Happening. An diesem Abend hat Detroit wieder die Zukunft vor
Augen.
26 Nov 2017
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## AUTOREN
Christian Werthschulte
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Schwerpunkt Rassismus
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