| # taz.de -- Hunderttausende Rohingya geflüchtet: „Die rennen ja nicht einmal… | |
| > Die meisten Birmesen rührt die Flucht der muslimischen Minderheit nicht. | |
| > Sie setzen trotz demokratischer Lippenbekenntnisse aufs Militär. | |
| Bild: Rennen für dürftige Essensportionen: Flüchtlingskinder aus Birma in ei… | |
| Rangun taz | Sunshine ist ein fröhliches Mädchen von zehn Jahren. Sie lebt | |
| in Birmas größter Stadt Rangun und geht gerne zur Schule. Ihr Leben hätte | |
| ganz anders verlaufen können. Denn ihre Eltern haben das Kind einst dem | |
| Kampf gegen die Militärdiktatur untergeordnet. | |
| „Sie war noch im Bauch ihrer Mutter, da habe ich mich schon bei ihr dafür | |
| entschuldigt“, erzählt ihr knapp fünfzigjähriger Vater Ko Jimmy heute. | |
| Sunshine wurde mitten in Birmas Revolution hineingeboren. Vater und Mutter | |
| kämpften für ein demokratisches Land für ihre Tochter. Kennengelernt haben | |
| sich die Eltern im Gefängnis. Als seine Frau schwanger war, gingen die | |
| beiden auf die Straße. Ihnen war bewusst, dass sie erneut im Gefängnis | |
| landen könnten. Und so kam es auch. Ihre ersten Lebensjahre verbrachte | |
| Sunshine deshalb bei den Großeltern. | |
| Dann kam das Jahr 2012. Die Welt und Birma waren überwältigt von den | |
| plötzlichen Reformen. Die Zensur wurde abgeschafft, freie Medien zugelassen | |
| und politische Gefangene freigelassen. Auch Sunshines Eltern. Ein Happy End | |
| für die kleine Familie und den Kampf um Demokratie. | |
| Seither sind Sunshines Eltern viel herumgekommen. Die internationale | |
| Gemeinschaft war begeistert vom Demokratieneuling Birma und seinen | |
| Aktivisten. Die beiden konnten sich von Berlin bis Washington kaum vor | |
| Einladungen retten. Doch das könnte die längste Zeit so gewesen sein. | |
| Birma wird eine ethnische Säuberung, wenn nicht sogar ein Genozid an der | |
| muslimischen Minderheit vorgeworfen. Über 600.000 Rohingya sind seit Ende | |
| August vor Brandstiftung, Vergewaltigung und Mord aus Birmas Westen in das | |
| benachbarte Bangladesch geflohen. Internationale Geldgeber blicken | |
| neuerdings wieder skeptisch auf das Land, Touristen stornieren ihre Reisen, | |
| das Ausland ist angesichts der Gewalt entsetzt und diskutiert Sanktionen. | |
| ## Früher Eingekerkerte unterstützen jetzt die Generäle | |
| Auch Ko Jimmy, der Blick so geradlinig wie seine Haltung, macht sich | |
| Sorgen. Allerdings nicht um die Rohingya, sondern um die Demokratie, sein | |
| Lebenswerk. Er ist besorgt, dass seine Tochter in einem Land groß werden | |
| könnte, das von Muslimen unterwandert wird. Über die Generäle, deretwegen | |
| er fast sein ganzes Leben im Gefängnis verbrachte, sagt er heute: „Das | |
| Militär gibt sein Bestes.“ | |
| So sehen das in Birma viele. Auf Facebook sprechen die Birmesen den | |
| Generälen ihre volle Unterstützung für den Kampf gegen die sogenannten | |
| Terroristen aus. Kürzlich gingen Tausende auf die Straße, um der Welt zu | |
| zeigen: Wir stehen auf der Seite der Armee. Darin ist man sich so einig, | |
| dass Kritik oder zumindest Misstrauen gegenüber dem Militär, wenn | |
| überhaupt, dann nur hinter vorgehaltener Hand geäußert werden kann. | |
| Birmas Militär wurde Jahrzehnte lang in einem Atemzug mit brutalen Regimen | |
| wie Nordkorea genannt. Die Generäle ließen das einst prosperierende Land, | |
| reich an natürlichen Ressourcen und gebildeten Menschen, verarmen. Das | |
| Bildungssystem blieb rudimentär, die Ressourcen wurden in beispielloser | |
| Selbstgerechtigkeit unter den hohen Militärs und ihren Günstlingen | |
| verteilt. | |
| Als ein Wirbelsturm im Jahr 2008 mehr als hunderttausend Menschenleben | |
| hinweg raffte, weigerte sich die Junta, ausländische Hilfsorganisationen | |
| ins Land zu lassen. Der Oberbefehlshabende soll damals über sein Volk | |
| gesagt haben: „Die haben jahrelang Frösche gegessen, dann brauchen sie | |
| jetzt auch keine Schokolade aus dem Ausland.“ | |
| Noch heute sind die Spuren von mehr als einem halben Jahrhundert unter dem | |
| Militärregime zu erkennen. Eine Gefängnisbiografie gehört fast zum guten | |
| Ton. Ausländische Besucher wundern sich, dass Hotelangestellte nicht | |
| wissen, wie man Kreditkartenmaschinen bedient. Wenn mal wieder das Licht | |
| ausfällt, operieren Ärzte mit Taschenlampen weiter. | |
| ## Die Militärs kontrollieren weiterhin den Staat | |
| Die Realität holte die Birmesen und Beifall spendende Beobachter aus dem | |
| Westen bald nach dem Start der Demokratisierung ein. Der Spielraum der | |
| Nationalen Liga für Demokratie (NLD) unter Friedensnobelpreisträgerin Aung | |
| San Suu Kyi erwies sich als kleiner als gedacht. | |
| Denn rechtzeitig bevor sie die Demokratisierung einleiteten, entwarfen die | |
| Generäle eine Verfassung, die ihre Macht unantastbar machte. Das Militär | |
| kontrolliert weiterhin die Polizei und zentrale Ministerien. Die größte | |
| Hoffnung auf eine Verfassungsänderung stellte ein prominenter Anwalt dar. | |
| Er wurde im Januar aus nächster Nähe und am helllichten Tag erschossen. Die | |
| Spur nach dem Täter verliert sich in Militärkreisen. | |
| Der Übergang verläuft ausschließlich nach den Spielregeln des Militärs. Die | |
| Regierung der Demokratie-Ikone Aung San Suu Kyi hat sich darauf | |
| eingelassen. Versöhnung lautet die Devise. „Das Militär hat sich | |
| gebessert“, sagt dementsprechend Ko Jimmy, der anders als sonst fahrig ist. | |
| Das Interview strengt ihn an. „Wir brauchen Zeit“, sagt er. | |
| Doch während sich Mehrheitsbevölkerung und Militär versöhnen, sterben in | |
| Myanmars Teilstaat Rakhine die Menschen. Die Rohingya finden selbst in | |
| progressiven Kreisen Birmas so gut wie keine Sympathien. Sie sind weder | |
| Teil der Zivilgesellschaft noch des öffentlichen Lebens. Weil das Militär | |
| die Papiere der Minderheit für ungültig erklärt hat, sind sie heute die | |
| größte staatenlose Gemeinschaft der Welt. Seit einer Gewalteskalation | |
| zwischen Buddhisten und Muslimen in Rakhine vor fünf Jahren lebt ein | |
| Großteil der rund eine Million starken Minderheit in abgeriegelten Zonen | |
| und Lagern, wo sie auf die Unterstützung von internationalen | |
| Hilfsorganisationen angewiesen sind. Über die Hälfte von ihnen ist | |
| inzwischen nach Bangladesch geflohen. Vor Kurzem ließ die birmesische | |
| Regierung ihre Felder abernten. | |
| Die jüngste Eskalation begann, nachdem einige Rohingya im Oktober | |
| vergangenen Jahres nach Jahrzehnten systematischer Diskriminierung erstmals | |
| zurückschlugen. Mit Steinschleudern, Macheten und ein paar Schusswaffen | |
| attackierten Mitglieder der Arakan Rohingya Salvation Army (ARSA) | |
| Grenzschutzposten. Neun Staatsbedienstete verloren ihr Leben. Das Militär | |
| holte daraufhin zum Vergeltungsschlag gegen die „islamistischen | |
| Terroristen“ aus, der vor allem auf Kosten der Zivilisten ging. Soldaten | |
| riegelten die Krisenzone für Journalisten und Hilfsorganisationen ab. | |
| Mithilfe von Satellitenbildern und Interviews rekonstruieren die Vereinten | |
| Nationen und Menschenrechtsgruppen schwerste Menschenrechtsverletzungen: | |
| Vergewaltigung, Demütigung, Angriffe, Brandstiftung und Mord durch | |
| Soldaten. | |
| ## Menschenrechte? Nicht zuerst | |
| „So schlimm kann das alles gar nicht sein“, sagt dazu Ko Jimmy, „die | |
| Flüchtlinge rennen ja nicht einmal.“ Mitglieder der einst revoltierenden | |
| „88 Generation“, unter anderem Jimmys Frau, sind selbst in die Krisenzone | |
| im Norden des Teilstaats Rakhine gefahren, um Hilfsgüter zu verteilen. | |
| Obwohl oder gerade weil sie nur buddhistische Rakhine treffen durften, | |
| fühlten sie sich in ihrer Meinung bestätigt, dass Myanmar von | |
| islamistischen Terroristen attackiert werde. Für Ko Jimmy gilt deshalb: | |
| „Zuerst kommt unsere nationale Souveränität, dann kommen die | |
| Menschenrechte.“ | |
| Mingalartaungnyunt, ein muslimisches Stadtviertel von Rangun im Mai 2017: | |
| Es ist Nacht. Männer mit Bärten stehen in spärlich beleuchteten Straßen | |
| dicht beieinander. Sie blicken nervös um sich. Manche von ihnen haben zur | |
| Selbstverteidigung ein Messer mitgebracht. | |
| Das Viertel sähe so aus wie der Norden von Rakhine, sagen nationalistische | |
| Mönche: fest in der Hand der Muslime. Einer von ihnen ist der buddhistische | |
| Mönch U Thuseitta. Er hat in jener Nacht im Mai die Polizei gerufen, weil | |
| sich angeblich illegale Bengalen, so bezeichnen die Birmesen die Rohingya | |
| abfällig, in einer Wohnung aufhielten. | |
| Während der Revolution gegen das Militär vor zehn Jahren führte U Thuseitta | |
| in seinem Stadtbezirk die Proteste an. Vor allem der Inflation wegen, sagt | |
| er heute. Man habe aber auch nach Demokratie verlangt. | |
| Renommierte Journalisten aus dem Vorstandsgremium des noch jungen | |
| Presserates appellieren an ihre Kollegen, das Image Birmas bei der | |
| Berichterstattung nicht zu beschädigen. Die Regierung ruft Abgeordnete dazu | |
| auf, ihr im Parlament keine allzu kritischen Fragen zu stellen. | |
| ## NGO-Vertreter: „Ungeheuer zu mehr Macht verholfen“ | |
| Ranguns Bars sind dieser Tage voll mit desillusionierten ausländischen | |
| NGO-Mitarbeitern, die hinter vorgehaltener Hand über die Birmesen sagen, | |
| die sie jahrelang beim Aufbau der Demokratie unterstützt haben: „Wir haben | |
| Ungeheuern zu mehr Geltung verholfen.“ Andere sprechen die Rohingya-Krise | |
| bei ihren Kollegen nicht mehr an. „Wie soll ich sonst noch mit Leuten | |
| zusammenarbeiten, die mir erklären die Rohingya-Frauen seien viel zu | |
| schmutzig als dass Soldaten sie vergewaltigen würden?“, fragt einer von | |
| ihnen. | |
| Demokratie, so wie viele Birmesen sie sich vorgestellt haben, scheint eher | |
| gleichbedeutend zu sein mit einem Ende der internationalen Isolation und | |
| mit wirtschaftlichem Fortschritt als mit einem freiheitlichen politischen | |
| System. Erzürnt verbittet man sich in Birma die internationale Einmischung | |
| in die Rohingya-Krise, die man gerne als „interne Angelegenheit“ abtut. | |
| Doch das ist sie schon längst nicht mehr. Schon seit den Siebzigern fliehen | |
| Rohingya ins verarmte Bangladesch, das kaum seine eigene Bevölkerung | |
| ernähren kann. Zu den 400.000, die dort seit Jahren leben, sind nun | |
| innerhalb weniger Wochen 600.000 weitere Rohingya gekommen. Gut die Hälfte | |
| von ihnen sind Kinder, oft Waisen. Hilfsorganisationen warnen, dass es sei | |
| nur noch eine Frage der Zeit sei, bis sich Seuchen ausbreiteten. Das | |
| Flüchtlingslager Cox’s Bazar ist eines der größten der Welt. | |
| ## „Rohingya sind Terroristen“ | |
| Doch anstatt sich damit auseinanderzusetzen, was das eigene Militär im | |
| Nachbarland angerichtet hat, zünden die Menschen bei einer interreligiösen | |
| Veranstaltung in einem Fußballstadium von Rangun im Namen von Frieden und | |
| Menschenrechten Kerzen an. Auch für die Rohingya? „Für die natürlich nicht, | |
| das sind Terroristen“, sagt ein Teilnehmer. | |
| „Ohne das Militär wären wir schon längst von anderen Ländern unterworfen | |
| worden“, erklärt der Mönch U Thuseitta. „Die Bengalen brennen ihre Häuser | |
| selbst nieder, um so internationale Aufmerksamkeit zu bekommen“, sagt er | |
| milde lächelnd und meint die Rohingya. Das wisse er, weil Regierung und | |
| Militär es sagen. | |
| Für U Thuseitta ergibt alles Sinn. Informationen, die seine Überzeugungen | |
| ins Wanken bringen könnten, erreichen ihn nicht. Englische Medienberichte | |
| versteht er nicht, und die lokale Presse berichtet so gut wie | |
| ausschließlich regierungsgetreu von attackierenden muslimischen Terroristen | |
| und davor fliehenden Buddhisten. | |
| Es scheint als hätte das Militär dem Volk vor der Demokratisierung schnell | |
| noch einen Schutzschalter in die Köpfe gepflanzt. Er setzt die lange | |
| gehegte Furcht vor dem Fremden, allen voran den Rohingya, frei, und | |
| legitimiert so das Vorgehen des Militärs. | |
| Im Büro der 88 Generation am nördlichen Stadtrand von Yangon sucht Ko Jimmy | |
| nach dem Schlüssel für das vereinseigene Revolutionsmuseum nebenan. Er hat | |
| die dort an den Wänden hängenden Erinnerungen an niedergeschossene | |
| Demonstranten schon lange niemandem mehr vorgeführt. Es bedarf mehrerer | |
| Telefonanrufe, bis endlich jemand auftaucht, der die Lichtschalter in den | |
| finsteren Räumen anknipsen kann. | |
| Fragt man Ko Jimmy, wieso Aung San Suu Kyi die Vereinten Nationen nicht ins | |
| Land lassen will, um die Vorwürfe gegen das Militär zu untersuchen, sagt | |
| er: „Wozu denn? Um uns schelten zu lassen?“ | |
| Als Ko Jimmy im Gefängnis saß, schrieb er mit anderen Insassen einen | |
| geheimen Brief an die UNO. Darin beschrieb er die Bedingungen, unter denen | |
| das Militär ihn festhielt, und flehte um Hilfe. Die Generäle leugneten | |
| damals, dass es politische Gefangene in Birma überhaupt gebe. Für den Brief | |
| an die UN bekam Ko Jimmy zwölf Jahre Haft zusätzlich. | |
| 20 Nov 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Verena Hölzl | |
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