# taz.de -- Familienpolitik der Grünen: Wieder nur Gedöns | |
> Bei den Jamaika-Sondierungen geben die Grünen ein progressives | |
> Familienbild auf. Die Argumente ähneln denen der Koalitionsparteien. | |
Bild: Familenpolitik kommt bei den Sondierungsgesprächen nur am Rand vor | |
Die deutsche Familienpolitik schwankt zwischen Modernisierung und | |
Konservatismus. Als 2007 die damals zuständige Ursula von der Leyen (CDU) | |
das Elterngeld als Lohnersatzleistung einführte, sendete sie an die Mütter | |
eine klare Botschaft: Wir helfen euch im ersten Jahr nach der Geburt eures | |
Kindes, danach aber kehrt schnell zurück in den Job! Die Unternehmen, die | |
wegen des Fachkräftemangels in bestimmten Branchen und Regionen | |
qualifizierte Frauen halten wollten, begrüßten das. | |
Unter Nachfolgerin Kristina Schröder kam es zu einem Kurswechsel, der sich | |
mit dem Reizwort Betreuungsgeld verband. Eltern, die ihr Kind nicht in eine | |
Tagesstätte schicken wollten, erhielten zeitweise 150 Euro Zuschuss | |
monatlich. | |
Es werde Geld verschwendet, das beim Ausbau öffentlicher Einrichtungen | |
fehle, monierten Kritiker/innen aus allen politischen Lagern. Müttern werde | |
ein Anreiz geboten, auf Erwerbstätigkeit zu verzichten und zu Hause zu | |
bleiben. Ein ablehnendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts beendete die | |
Debatte. Die Wiedereinführung der „Herdprämie“ fordert seither nur noch d… | |
AfD. | |
Auf die Widersprüche zwischen den zahlreichen Förderinstrumenten wies eine | |
umfangreiche Expertise hin. 70 Wissenschaftler/innen aus elf | |
Forschungsinstituten nahmen in langjähriger Kleinarbeit die 156 | |
Einzelleistungen der Familienpolitik unter die Lupe. Heraus kam ein wenig | |
schmeichelhaftes Zeugnis für die Auftraggeber aus Ministerien und | |
Regierung. | |
Die finanzielle Unterstützung von insgesamt über 200 Milliarden Euro | |
nannten die Berater/innen „teilweise kontraproduktiv“. Das Kindergeld sei | |
„wenig effektiv“, das Ehegattensplitting „ziemlich unwirksam“, die | |
beitragsfreie Mitversicherung von Ehepartnern sogar „besonders unwirksam“. | |
Mehr Mittel müssten in Betreuung und Bildung fließen, die Geldtransfers an | |
Familien „mit der Gießkanne“ seien der falsche Weg, lautete das wichtigste | |
Fazit. | |
## Nur ein Randthema | |
In den Koalitionssondierungen spielt Familienpolitik dennoch eine | |
untergeordnete Rolle. Es gilt wieder mal als „Gedöns“. Doch auch das | |
Vernachlässigen und Ignorieren eines Themas ist eine richtungsweisende | |
Aussage. Sollte Jamaika klappen, droht der familienpolitische Stillstand. | |
Was die Sachverständigen als „kontraproduktiv“ oder „unwirksam“ | |
kritisierten, wird derzeit noch nicht einmal debattiert. Auffälligste | |
Leerstellen sind das Ehegattensplitting und die kostenlose Mitversicherung | |
von Frauen in der Krankenkasse ihres Mannes. | |
Fanden sich in den Wahlprogrammen von SPD und Grünen zumindest schwammige | |
Absichtserklärungen, wie in fast allen Nachbarländern eine | |
Individualbesteuerung einzuführen, schwiegen sich Christ- und | |
Freidemokraten dazu komplett aus. Und selbst Sozialdemokraten und Grüne | |
wollten den Splittingvorteil für bestehende Ehen weiter garantieren, also | |
bestenfalls eine schrittweise Veränderung herbeiführen. | |
Die von den Fachleuten besonders kritisierte Mitversicherung ist bei den | |
derzeitigen Gesprächen über eine Regierungsbildung erst recht kein | |
Diskussionspunkt. Dabei fehlt jeder triftige Grund, warum Ehefrauen der | |
Krankenkassenbeitrag erlassen werden sollte. | |
Das chronisch unterfinanzierte deutsche Gesundheitssystem könnte diese | |
Finanzspritze zudem gut gebrauchen. Das Versicherungsprivileg ist neben dem | |
Steuersplitting die Hauptursache, warum sich so viele Mütter mit | |
geringfügiger Beschäftigung begnügen. | |
## Festhalten am Traditionellen | |
Der Zuwachs der Minijobs hat hier einen Ursprung: SPD-Kanzler Gerhard | |
Schröder (und seine Helfer Wolfgang Clement und Franz Müntefering) wollten | |
die steigende weibliche Erwerbsbeteiligung in einem prekären | |
Niedriglohnsektor kanalisieren. Angela Merkel konnte später die Früchte | |
dieser rot-grünen „Reform“ ernten: Die nach 2005 sinkende Arbeitslosigkeit | |
hatte auch damit zu tun, dass kostenfrei mitversicherte Zuverdienerinnen | |
aus der Statistik verschwanden. | |
Zentrale Rahmenbedingungen legen Müttern weiterhin die Funktion der | |
Familienfrau nahe – und beschränken so die Möglichkeiten beider | |
Geschlechter, andere Lebensentwürfe umzusetzen. Die Alimentierung besser | |
verdienender Eltern (wie beim steuerlichen Kinderfreibetrag, der mehr | |
einbringt als das Kindergeld) hat Priorität vor dem Ausbau der öffentlichen | |
Infrastruktur. | |
Kitaplätze sind immer noch nicht überall kostenlos, die Versorgung für | |
unter Dreijährige bleibt trotz Rechtsanspruch hinter den Vorgaben zurück. | |
Von einer verlässlichen Ganztagsbetreuung in Kindergarten und Schule sind | |
vor allem die westlichen Bundesländer weit entfernt. | |
Verblüffend einig sind sich die Jamaika-Parteien bei den | |
Argumentationsmustern, mit denen sie das Festhalten am Traditionellen | |
legitimieren. „Ich möchte nicht, dass das alte Modell der | |
Alleinverdienerehe durch ein neues staatliches Dogma abgelöst wird“, sagt | |
Franziska Brantner, die familienpolitische Sprecherin der Grünen: „Wir | |
wollen einen freiheitlichen, selbstbestimmten Ansatz.“ Ganz ähnlich die | |
FDP: „Ich möchte, dass Familien selbst entscheiden, wie sie ihr Leben | |
gestalten wollen“, so die liberale Vize-Parteivorsitzende Katja Suding. Die | |
private Aufteilung der Aufgaben „gehe den Staat nichts an“. | |
## Patriarchal verfasster Sozialstaat | |
Fehlt noch die gleich lautende Rhetorik des (wahrscheinlichen) | |
Koalitionspartners: Man „wolle Familien kein bestimmtes Modell | |
vorschreiben“, heißt es bei den Unionsparteien. Nach diesem Muster | |
argumentieren die deutschen Konservativen seit Jahrzehnten – und vernebeln | |
damit systematisch die Debatte. | |
Denn unter Führung von Konrad Adenauer und seinem damaligen Minister | |
Franz-Josef Wuermeling entstanden in den 1950er Jahren jene Regularien | |
eines patriarchal verfassten Sozialstaates, die einseitig den männlichen | |
Alleinverdiener und seine nicht erwerbstätige Gattin förderten. Später | |
entwickelte sich daraus die auch heute überwiegende Aufteilung in | |
Haupternährer und Zuverdienerin. | |
Nichts vorschreiben, selbstbestimmt entscheiden lassen, kein staatliches | |
Dogma? Steuern heißen deshalb so, weil mit ihnen stets gesteuert wird – in | |
die gewünschte politische Richtung. Wer an bestehenden Strukturen nichts | |
ändern will, argumentiert mit der „Freiheitlichkeit“ – und bereitet so n… | |
Regierungskonstellationen vor. | |
11 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gesterkamp | |
## TAGS | |
Jamaika-Koalition | |
Familienpolitik | |
Bündnis 90/Die Grünen | |
Jamaika-Koalition | |
Kohle | |
Jamaika-Koalition | |
Sondierungsgespräche | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Jamaika-Sondierungen und Atomwaffen: Man kann ja mal drüber reden | |
Auf der langen Liste strittiger Fragen, auf die die Jamaika-Sondierer eine | |
Antwort finden müssen, steht auch eine alte grüne Forderung: | |
„Atomwaffenabzug“. | |
Kommentar Jamaika und die Klimaziele: Kohle schafft sich nicht selbst ab | |
Beim Verbrennungsmotor rücken die Grünen von ihrer Position ab. Wortbruch? | |
Nein, Kritik ist verfehlt. Anders sieht's bei der Kohle aus. | |
Klimapolitik bei Jamaika-Sondierungen: Grüne verzichten auf Enddatum 2030 | |
Die Umweltpolitik gilt als ein zentraler Streitpunkt bei den | |
Koalitionsverhandlungen. Doch nun geben sich die Grünen pragmatisch. | |
Wichtige Tipps für Verhandlungen: Bockige Jungs und die Lust am Spiel | |
So klappt’s vielleicht doch noch mit Jamaika. Ein Familientherapeut, ein | |
Verhandlungscoach und eine Spieltheoretikerin geben Rat. |