# taz.de -- Nachlass von Walter Ulbricht versteigert: Der Wert der Geschichte | |
> Einige Originaldokumente von Walter Ulbricht und seiner Frau Lotte wurden | |
> in Hamburg versteigert. Es gab reges Interesse. Unsere Autorin war | |
> fasziniert. | |
Bild: Besondere Kennzeichen: „keine“ – Personalausweis von Walter Ulbrich… | |
HAMBURG taz | Ich war ein Jahr alt, als Walter Ulbricht als | |
Staatsratsvorsitzender der Deutschen Demokratischen Republik zurücktrat. | |
Heute spricht man von einer Entmachtung, denn dieser Rücktritt wurde ihm | |
nahegelegt, er hatte wohl keine andere Wahl. In meiner Kindheit und Jugend | |
kam Walter Ulbricht dann fast überhaupt nicht mehr vor. Ich – alle Kinder, | |
kannten hauptsächlich Erich Honecker. Erich Honeckers Bild hing in allen | |
Klassenzimmern, sein Gesicht kannte jeder. | |
Wir kannten auch Ernst Thälmann und Wladimir Iljitsch Lenin, wir kannten | |
Wilhelm Pieck, unseren einzigen Präsidenten, und natürlich Karl Liebknecht | |
und Rosa Luxemburg, aber Walter Ulbricht, der fiel ein bisschen unter den | |
Tisch, so wie Joseph Stalin, der kam auch nicht im Unterricht vor, | |
jedenfalls nicht in meinem Unterricht in meiner Schule. Es war | |
offensichtlich ein Problem, über Fehler im sozialistischen System zu reden, | |
Fehler gab es einfach nicht. | |
Dass man sich uneins war in der sozialistischen Führung, das wäre ein | |
Fehler gewesen, dass einem Staatsratsvorsitzenden gar der Rücktritt | |
nahegelegt wurde, das war undenkbar, mit solchem Wissen mussten | |
Heranwachsende nicht belastet werden, denn die Partei war in allen | |
Bereichen siegreich, der Sozialismus unaufhaltsam, das war die Botschaft, | |
das sollten wir glauben. Ich denke, wenn man sich mit den Problemen des | |
Sozialismus auseinandergesetzt hätte, ernsthaft, wenn man diese Probleme | |
öffentlich hätte benennen dürfen, darüber diskutieren, nach Wegen suchen, | |
dann hätte der Sozialismus vielleicht eine längere Verfallszeit gehabt. | |
Am Samstag wurden in Hamburg vom Auktionshaus Carsten Zeige einige | |
Originaldokumente Walter Ulbrichts und seiner Frau Lotte versteigert. Es | |
gab reges Interesse. Ich war fasziniert. Neben Dingen wie dem „Ehrenzeichen | |
für die deutsche Volkspflege“ aus dem dritten Reich, dem „Herzoglich | |
Sachsen-Ernestischem Hausorden“, oder dem „Kesselpaukenbehang“ eines | |
Husarenregimentes wurde plötzlich der SED-Mitgliedsausweis von Walter | |
Ulbricht versteigert. Der ältere Herr neben mir winkte ab: „Jetzt kommen | |
die Kommunisten, die interessieren mich nicht“, sprach er, und verließ den | |
Raum. Er hatte auf einige Orden geboten, auf die nicht ganz so teuren, und | |
auch für einige den Zuschlag erhalten. | |
Andere wurden bei den Nachlassdokumenten Walter Ulbrichts erst wach. Auf | |
einem Bildschirm neben dem Auktionator konnte man die angebotenen Dokumente | |
sehr gut sehen. Die meisten hielten ohnehin ihren Katalog im Schoß. Die | |
Mitgliedskarte Nummer 2 der „Kommunistischen Partei Deutschlands“ zum | |
Beispiel, auf rotem Papier, handausgeschrieben, ausgestellt am ersten | |
September 1945, gestempelt sowohl mit dem Stempel der KPD als auch mit den | |
zwei verschränkten Händen, die die Sozialistische Einheitspartei | |
symbolisierten, die erst 1946 aus dem Zusammenschluss von SPD und KPD | |
hervorging. | |
Sie ging weg für 2.700 Euro. Oder sein Personalausweis, einer, auf dem noch | |
ein Fingerabdruck drauf ist, ein Fingerabdruck Walter Ulbrichts. Hätte ich | |
damals, in einer Staatsbürgerkundestunde zum Beispiel, mir jemals ausdenken | |
können, dass ich eines Tages einer Versteigerung des Personalausweises | |
Walter Ulbrichts beiwohnen würde? Für übrigens 6.000 Euro. So geht | |
Geschichte. | |
Vielleicht steigt Walter Ulbricht noch im Wert. Während ich in der | |
Versteigerung saß und die Bilder der Dokumente an mir vorbeizogen, die | |
Symbole, die Abkürzungen, vieles mir vertraut, aus einer ganz anderen Zeit, | |
aus der Zeit ‚davor‘, war ich selber Teil der Geschichte. Nichts davon ist | |
geblieben. Die Lieder, die wir lernten, können wir nicht mehr singen, die | |
Sätze, die wir auswendig lernten, nicht mehr sagen, es ist alles falsch | |
gewesen, Unsinn. | |
Wer war Walter Ulbricht? War er ein guter Mensch? Ein Kämpfer, ein Held? | |
War er einer, der seine eigenen Interessen verfolgte, ein Mauerbauer und | |
Lügner? Darüber erfährt man auf einer Auktion nichts. Man erfährt, dass er | |
historisch relevant ist, denn sonst wäre sein Ausweis nichts wert. | |
24 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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