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# taz.de -- Geschichte vom Verschwinden: Sandra
> Eine Jahresendgeschichte von Katrin Seddig (Text) und Imke Staats
> (Illustrationen)
Bild: „Wer ist denn diese Frau?“, frage ich sehr leise und wie nebenher Sab…
Ich starre aus dem Fenster. Es schneit nicht. Es schneit nie. Ich frage
mich, ob es noch Sinn hat, auf Schnee zu warten, oder ob wir alle den
Schnee wie ein Wunder betrachten sollten. Niemand wartet auf ein Wunder.
Das stimmt nicht, denke ich, kranke Menschen, liebeskranke Menschen, wie
ein kleines Wölkchen schwebt die Hoffnung um sie herum, während der Alltag,
die Gewissheit, dass es gar keine Wunder gibt in diesem Leben, ihre Körper
schwer am Boden hält.
Es gibt keine Wunder. Es gibt keinen Schnee. Wir sollten anfangen, diese
Feste auf eine andere Art zu feiern. Wir sollten andere Filme sehen, Filme
ohne Schnee.
Ich sitze auf einem Stuhl und sehe aus dem Fenster, hinunter auf den Platz
vor meinem Haus, auf den kein Schnee fällt, nur dichte Schleier von feinem
Regen, und ich bin froh, dass ich hier oben sitze und nicht dort unten
herumlaufe, wo ich durchnässt werden würde, das kann ich nicht leiden. Ich
kann nicht verstehen, warum die Franzosen in Filmen so darin schwelgen.
Wenn sie herumirren und sich unter Schirmen treffen. Oder wenn sie sich
ohne Schirm treffen, mit weit aufgerissenen Augen, die Frauen in
französischen Filmen haben immer Augen wie Koboldmakis, und der Regen rinnt
ihnen über ihre glatte Haut. Das ist Liebe. Nach dem Regen reden sie. Sie
reden immer sehr viel in französischen Filmen, und das gefällt mir. Man
weiß, woran man ist.
Es klingelt und das ist Cornelius.
„Liebling, du siehst sehr fein aus.“
„Ich weiß“, sage ich, ich sehe wirklich fein aus. Ich habe ein blassgelbes
Kleid an und gemusterte Strümpfe.
„Können wir?“, sagt Cornelius.
Wir wollen zu den Flemmings. Aber ich möchte nicht zu den Flemmings gehen.
Ich stehe von meinem Stuhl auf. Es war schön, auf diesem Stuhl zu sitzen
und auf den Platz zu sehen. Dieser Platz ist ein nichtssagender Platz. Er
hat keine Bänke, keine Tauben, er hat einen mittelmäßigen Straßenverkehr
und keinerlei Geschäfte. Es tut sich nicht viel, dort unten. Aber ich warte
schon seit Längerem, ich denke, irgendwann wird etwas passieren.
„Was hast du gekauft?“
„Einen Aal. Du kannst ihn dir ansehen.“
Ich sehe mir den Aal an, er ist ekelhaft.
„Weißt du“, sage ich, „ich möchte diesen Aal wirklich nicht in meiner
Wohnung haben.“
„Ich weiß“, sagt Cornelius und küsst mich.
„Wie kommst du darauf, einen Aal zu kaufen?“
„Den bringen wir mit.“
„Zu den Flemmings bringen wir diesen Aal mit? Woher weißt du, dass sie Aal
mögen?“
„Ich weiß es ja nicht. Aber ich riskiere es. Er ist geräuchert. Man kann
ihn einfach so essen. Er ist für’s Buffet. Ich habe Baguette dazu gekauft.“
„Ich werde nicht mitkommen“, sage ich.
„Warum denn nicht? Du hast dich doch schon hübsch gemacht.“
„Ich mag die Flemmings nicht.“
„Du magst sie nicht? Es sind deine Freunde. Und die Odenthals und Timo? Das
sind doch alles deine Freunde. Magst du die auch nicht?“
Ich schweige.
Dann gehen wir zu den Flemmings und ich mag sie. Ich mag vor allem Sabine
und ich mag auch Dennis. Sabine ist klein und dick und laut. Sie hat ein
schlimmes Mundwerk. Sie kann richtig gemein werden. Manchmal empfinde ich
so etwas wie Liebe für sie.
Die Odenthals mag ich auch. Die Odenthals sind Jan und Markus, sie sind
seit letztem Jahr verheiratet und sie waren immer Jan und Markus, aber seit
sie verheiratet sind, sagen wir die Odenthals. Es ist ein Witz, aber ich
weiß gar nicht, warum es ein Witz ist, zu den Flemmings sagen wir auch, die
Flemmings, und es ist kein Witz. Und Timo? Er gehört nun einmal dazu. Er
passt nicht zu uns, zu unserer Gemeinschaft. Er ist eine ganz andere Sorte
Mensch, und ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte, dass er zu uns
gehört. Ich denke, es müsste ihm auffallen, dass er nicht zu uns passt.
Wir sitzen im Wohnzimmer der Flemmings und trinken Sekt. Die Flemmings
haben sehr viele Stühle und Sessel und Sofas und Kissen und an den Wänden
hängt alles voller Bilder und manche Bilder sind einfach nicht schön. Es
hängt alles durcheinander und auf jedem freien Platz steht etwas, eine
Statue aus Gips, ein Stapel Bücher, eine getrocknete Distel, eine staubige
Kerze, ein hölzerner Hund und überall sind kleine Gefäße, in denen was drin
ist, Perlen und Erbsen und Knöpfe und verschrumpeltes, altes Obst. Auf dem
Boden liegen Teppiche übereinander und zwischen all diesen Dingen rennt
Sabine herum, mit Tellern und Gläsern und schreit. Es ist der schönste und
gemütlichste Ort der Welt. Es ist die Wohnung, in der ich gerne sterben
würde, zwischen Decken und altem Obst. Ich schaffe es nicht, bei mir zu
Hause solch ein Durcheinander anzuhäufen, um damit meine Wohnung
auszukleiden. Ich kaufe nur wenig und Besonderes, ich bin zu wählerisch, um
wirklich jemals zufrieden zu sein. Meine Wohnungen haben immer etwas
Vorläufiges, als würde ich mich in einer andauernden Phase des Übergangs
befinden, und Cornelius respektiert mich zu sehr, um mir entgegenzuwirken.
Ich betrachte ihn. Er ist schön. Er ist viel schöner als ich. Er ist zu
schön, um Frauen anzuziehen. Manchmal zieht er Männer an. Ich war gleich
bereit, ihn zu nehmen. Ich bin selten so zufrieden mit irgendwelchen
Dingen, deshalb habe ich nicht lange gefackelt.
Wir trinken Sekt, unsere Stimmung lockert sich. Und dann fällt mir auf,
dass in der Ecke, auf dem Sessel am Fenster, eine Frau sitzt. Sie trägt
einen blassgelben Overall, und das gefällt mir nicht, weil er fast das
gleiche Blassgelb hat wie mein Kleid, und wir also aussehen wie aufeinander
abgestimmt. Obwohl mir gleich klar ist, dass dieser Gedanke einigermaßen
absurd und auch irrelevant ist. Aber meine Gedanken sind oft absurd und
auch irrelevant für die anderen, für mich selbst aber nicht. Mir scheint
das natürlich, denn die anderen nehmen meine Gedanken so gut wie gar nicht
wahr. Das blasse Gelb wählte ich aus, weil es mir festlich schien, es ist
das blasse Gelb einer eigentlich weißen Kerze, die durch den Schein ihrer
Flamme gelblich leuchtet.
„Wer ist denn diese Frau?“, frage ich sehr leise und wie nebenher Sabine in
ihr Ohr.
„Sandra“, sagt Sabine.
Die ganze Jahresend-Geschichte finden Sie in der Wochenend- und
Silvester-Ausgabe der taz am Kiosk – oder gleich [1][hier].
30 Dec 2017
## LINKS
[1] /e-kiosk/!114771/
## AUTOREN
Katrin Seddig
## TAGS
Obdachlosigkeit
Schiff
DDR
Schönheitsideale
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