| # taz.de -- „Hundesöhne“ im Berliner Gorki-Theater: Von Traumatisierung ge… | |
| > Vom Überlebenskampf im Kriegsland erzählte die Schriftstellerin Ágota | |
| > Kristóf. Der Regisseur Nurkan Erpulat macht daraus ein Stationendrama. | |
| Bild: Um den Krieg zu überleben braucht es Abhärtung: die Zwillingsbrüder im… | |
| Zwei Bretter braucht es. Eins, um auf die Mauer zu kommen. Das andere, um | |
| über den Stacheldraht zu gelangen. Gleichgewicht halten. Unauffällig sein, | |
| auf das Timing achten, auf die Grenzpatrouillen, das Minenfeld. Aber die | |
| Flucht, sie ist möglich, das erklären die 9-jährigen Zwillinge jetzt ihrem | |
| Vater auf der Bühne im Gorki-Theater. Der setzt den Plan in die Tat um und | |
| tritt auf eine Mine. Die Entdeckung der Brüder: Die Flucht ist möglich – | |
| wenn eine Person vorausgeht und mögliche Minen auslöst. | |
| Eine Szene, die grausam und absurd zugleich wirkt. Doch auf diesen Moment | |
| haben die Zwillinge letztendlich hingearbeitet. Ágota Kristóf erzählt in | |
| ihrem Roman „Das große Heft“ die Geschichte der Brüder, die sich in Zeiten | |
| des Bürgerkrieges einen eigenen Survival-Guide zur physischen wie | |
| psychischen Abhärtung erstellen und in Aufsätzen festhalten. | |
| Der Regisseur Nurkan Erpulat hat die Bühnenadaption dieses Romans gleich | |
| mit Kristófs beiden Fortsetzungen, „Der Beweis“ und „Die dritte Lüge“… | |
| einem epischen Stationendrama mit einer stolzen Gesamtlänge von 3 Stunden | |
| und 50 Minuten verwoben mit dem Titel „Hundesöhne“. | |
| In nichts als weißer Baumwollwäsche und schwarzen Gummistiefeln werden | |
| Lucas und Claus (Loris Kubeng und Linda Vaher) inmitten der Kriegswirren in | |
| die Obhut ihrer Großmutter übergeben. Sie nennen sie Hexe – und sie die | |
| Kinder Hundesöhne. Loris Kubeng und Linda Vaher stehen in dem kargen | |
| Bühnenbild, dessen Zentrum ein schwarzer Mauerklotz bildet, und verkörpern | |
| diese Kindheit mit frappierender Trostlosigkeit, egal ob sie nun auf | |
| Soldaten, Händler oder Pfarrer treffen. Es ist alles der gleiche graue | |
| Kriegsalltag. | |
| An große weiße Papiere, die von der Decke hängen, schmieren sie Bäume oder | |
| Häuser. „Wir müssen beschreiben, was ist, was wir hören, was wir machen“, | |
| sagen sie. Aber nicht ihre Gefühle. Dafür ist in diesen Kriegswirren kein | |
| Platz. Sie beleidigen, schlagen und beschimpfen sich. Um den Schmerz zu | |
| töten. Wer den Bürgerkrieg überleben will, wer die Hoffnung auf die Flucht | |
| in die Stadt hinter der Grenze aufrechterhalten will, der muss abgehärtet | |
| und brutal sein. Claus, einem der Brüder, gelingt schließlich die Flucht. | |
| Das Kriegsgrauen wird nur angedeutet: Maschinengewehrsalven lassen die | |
| Figuren auf der Bühne zusammenzucken, eine Girlande aus Strichmännchen wird | |
| über die Bühne gereicht, wenn von der Flucht erzählt wird. Das kann | |
| symbolisch überladen wirken, genauso wie der permanente Wechsel der sechs | |
| Schauspieler in verschiedene Rollen zuweilen unübersichtlich ist. | |
| ## Unglückliches Wiedersehen | |
| Doch anders als etwa János Szász’ gleichnamige Verfilmung, die Kristófs | |
| Vorlage in zum Teil drastische Szenen umsetzte, entblättert Erpulat mit | |
| seiner reduzierten Inszenierung die seelischen Trümmer, die der Krieg bei | |
| den Überlebenden anrichtet. | |
| Taner Şahintürk schlüpft im zweiten Teil der Aufführung, als der Krieg | |
| vorbei ist, in die Rolle des adoleszenten Lucas. Der nimmt ein Kind bei | |
| sich auf, den kranken Matthias, als wäre ihm in dem abgehärteten | |
| Überlebenskampf doch noch ein Funken Menschlichkeit geblieben. Und er | |
| verliebt sich später in die Bibliothekarin Clara, die Çiğdem Teke als | |
| ebenso von Totalitarismus und Bürgerkrieg Traumatisierte gibt. Zwei | |
| gebrochene Seelen, die versuchen, sich irgendwie gemeinsam zurechtzufinden. | |
| Wenn Taner Şahintürk beim vorsichtigen Kuss dann doch noch die Möglichkeit | |
| aufscheinen lässt, dahinschmelzen zu können, ist einer der schönsten | |
| Momente erreicht an diesem Theaterabend, der so manche Geduld fordert. Der | |
| geflohene Bruder Claus sucht Lucas in den Träumen heim. Hat er überhaupt | |
| überlebt? Claus ist im Schlussteil der Inszenierung längst wieder im Dorf | |
| seiner Kindheit, hat viel durchgemacht, saß im Gefängnis. Lucas findet er | |
| nicht. | |
| Çiğdem Teke sitzt in Kleid und Perücke auf der Bühne, dass sie Lucas | |
| verkörpert, wird erst allmählich klar. Die Brüder erkennen einander nicht | |
| mehr. Die Abhärtung und Brutalität, die sie brauchten, sorgt für ein | |
| tragisches Unvermögen, dem nächsten Menschen noch begegnen zu können. Die | |
| Erfahrung, die Ágota Kristófs in den Roman hineinlegte, destilliert auch | |
| Erpulat in der Inszenierung: Was in den Kriegsgrauen an Menschlichkeit | |
| zerstört wird, ist nicht mehr zu heilen. | |
| 20 Oct 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Benjamin Trilling | |
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