| # taz.de -- Assads Strategie für Syrien: Schöne Pläne, langer Krieg | |
| > Das Konzept der Deeskalationszonen für Syrien klingt gut. Doch es | |
| > funktioniert nicht. Assad will das Land demografisch „säubern“. | |
| Bild: Zivilverteidigung im Einsatz nach einem Luftangriff in der Provinz Idlib | |
| BERLIN taz | Die Ansprüche sind geschrumpft. Wenn sich Politiker zu | |
| Syrien-Gesprächen treffen, geht es nicht mehr um politischen Übergang oder | |
| humanitäre Hilfe, nicht mal mehr um Waffenruhen. Im besten Fall einigen | |
| sich ausländische Interventionsmächte auf „Deeskalation“. | |
| Im Mai 2017 beschlossen Russland und Iran – die Schutzmächte von Machthaber | |
| Baschar al-Assad – sowie die Türkei als Unterstützer der Opposition | |
| erstmals vier Deeskalationszonen: in Idlib im Nordwesten, in Teilen der | |
| Provinzen Hama und Homs, den östlichen Vororten von Damaskus und in der | |
| südlichen Provinz Daraa. Nur letztere verdient den Namen, weil im | |
| überwiegend von gemäßigten Rebellen kontrollierten Süden tatsächlich so | |
| etwas wie Ruhe herrscht. Überall sonst eskaliert die Gewalt. | |
| Das hat zwei Gründe. Zum einen fehlt bis heute ein effektiver Mechanismus, | |
| der lokale Feuerpausen umsetzt und Verstöße sanktioniert. Deshalb hängt | |
| alles vom guten Willen der Akteure ab. Will Assad ein Gebiet zurückerobern, | |
| kann er ungestraft weiterbomben. Fürchtet eine radikale Islamistengruppe um | |
| ihren Einfluss, befeuert sie den Konflikt mit dem Regime, um Unterstützung | |
| zu generieren. Und wo iranische Milizen, Hisbollah-Kämpfer oder türkische | |
| Soldaten eigene Interessen verfolgen, scheren sie sich nicht um | |
| Deeskalation. | |
| Die Tatsache, dass in Daraa seit Juli kaum noch gekämpft wird und laut UN | |
| 6.500 geflüchtete Syrer aus Jordanien in die Oppositionsgebiete | |
| zurückkehrten, hat schlicht damit zu tun, dass die Region für Assad gerade | |
| keine Priorität darstellt. | |
| ## Kriegsgegner sind keine unabhängigen Beobachter | |
| Der zweite Grund hängt unmittelbar mit dem ersten zusammen. Aktive | |
| Kriegsparteien taugen nicht zu unparteiischen Beobachtern. Im Juni startete | |
| das Regime eine Offensive gegen die Damaszener Vororte Jobar und Ain Tarma, | |
| zwei Hochburgen der Rebellen, die in einer Deeskalationszone liegen. Immer | |
| wieder meldeten Aktivisten den Beschuss den zuständigen russischen | |
| Offizieren – ohne Ergebnis. | |
| In Idlib ist Russland selbst an Luftschlägen beteiligt. Die dort Ton | |
| angebende Hayat Tahrir al-Sham, eine Dschihadistentruppe mit Verbindungen | |
| zu al-Qaida, erkennt die Deeskalationszone nicht an, da sie als | |
| Terrorgruppe ohnehin davon ausgenommen ist und weiter bekämpft werden kann. | |
| Syrische und russische Militärs nutzen jedoch den Kampf gegen den Terror | |
| als Vorwand, um zivile Ziele zu zerstören. | |
| Zwischen dem 19. und 27. September zählte das Syrische Netzwerk für | |
| Menschenrechte (SNHR) 36 russische Angriffe auf zivile Infrastruktur – | |
| darunter acht medizinische Einrichtungen, zwölf Zentren des Zivilschutzes, | |
| fünf Schulen, zwei Krankenwagen und ein Flüchtlingslager. Das | |
| Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) bestätigt insgesamt zehn | |
| zerstörte Krankenhäuser. Und die Organisation Ärzte ohne Grenzen, die in | |
| Syrien 73 medizinische Einrichtungen unterstützt, warnt, dass „schwere | |
| Bombenangriffe die Gesundheitsversorgung im Nordwesten Syriens vernichten“. | |
| Damit disqualifiziert sich Moskau selbst als Garantiemacht für | |
| Deeskalation. So wie die Türkei, deren Militäraktion in grenznahem | |
| syrischen Gebiet ausschließlich der Einhegung der Kurden dient. Das gilt | |
| auch für den Iran, dessen Milizen in Syrien einen dauerhaften Einfluss | |
| Teherans zementieren sollen. Zur Überwachung von Waffenruhen ungeeignet | |
| erscheinen außerdem die USA und Europa, die in Syrien ausschließlich den | |
| Terror des IS bekämpfen und mit ihren Kampfjets ebenfalls Zivilisten töten, | |
| statt diese vor Angriffen zu schützen. | |
| ## Der Kampf gegen den IS steht derzeit im Vordergrund | |
| Wenn aber die einflussreichsten ausländischen Mächte dieses Krieges nicht | |
| in der Lage sind, die Gewalt einzudämmen, wie soll das Land zur Ruhe | |
| kommen? Die bittere Wahrheit ist, dass der Konflikt in Syrien noch lange | |
| nicht vorbei ist. Die nächsten drei Phasen sind dabei einigermaßen | |
| absehbar. | |
| Aktuell steht der Kampf gegen den IS im Vordergrund. Im Osten des Landes | |
| wetteifern Assad und seine Verbündeten mit den kurdisch dominierten und von | |
| den USA unterstützten Syrian Democratic Forces (SDF) darum, wer mehr | |
| Gelände vom IS zurückerobert. Die SDF rücken in Rakka vor, das Regime | |
| konzentriert sich auf Deir al-Sor. Bei russischen, syrischen und | |
| amerikanischen Luftschlägen sterben monatlich Hunderte Zivilisten, für 2017 | |
| dokumentierte das SNHR bislang 8.115 zivile Opfer – 30 pro Tag. | |
| Zehntausende sind vor den Kämpfen geflüchtet, ihre Versorgung in den | |
| Provinzen Deir al-Sor, Rakka und Hasaka gestaltet sich laut IKRK schwierig. | |
| Der Kampf gegen den IS birgt in Syrien außerdem die Gefahr einer | |
| internationalen Eskalation. Denn nirgendwo kommen sich Russen, Iraner und | |
| Amerikaner so nahe wie bei Deir al-Sor. Bislang trennt der Euphrat die | |
| Gegner – Assad-loyale Milizen erobern die Gebiete westlich des Flusses, die | |
| SDF bekämpfen den IS am östlichen Ufer. | |
| Sind die Dschihadisten vertrieben, drohen Zusammenstöße, schließlich wollen | |
| Damaskus und Teheran bis zur irakischen Grenze vorrücken, um einen Landweg | |
| vom Iran bis zum Mittelmeer zu sichern. US-Präsident Donald Trump wird kaum | |
| etwas dagegen unternehmen, will er doch Ärger mit Moskau vermeiden und | |
| Syrien so schnell wie möglich verlassen. | |
| ## „Ergebt euch oder sterbt“, lautet Assads Angebot | |
| Der IS wird aus Syrien vertrieben werden und wie im Irak ideologisch | |
| weiterbestehen – ein dschihadistischer Relaunch ist angesichts von sozialer | |
| Ungerechtigkeit, fehlender Teilhabe und Perspektivlosigkeit eine Frage der | |
| Zeit. Bis dahin wird der Terror im Untergrund weitergehen, auch in Form von | |
| Anschlägen in Assads Kernland an der Küste und in Damaskus. | |
| In Phase zwei wird sich das Regime auf die zentral gelegenen Gebiete der | |
| Opposition konzentrieren, also das östliche Umland der Hauptstadt und die | |
| Region zwischen Homs und Hama. Keiner wird Assad daran hindern, die | |
| Menschen dort in die Kapitulation zu treiben. „Ergebt euch oder sterbt“ | |
| lautet das Angebot, es wird geschossen und ausgehungert, bis der Widerstand | |
| bröckelt. Am Ende können Rebellen und Aktivisten sich unterwerfen oder | |
| ihrer Vertreibung nach Idlib zustimmen. Loyale Syrer werden angesiedelt und | |
| Assad kommt seinem öffentlich erklärten Ziel einer „gesünderen und | |
| homogeneren Gesellschaft“ ein Stück näher. | |
| Bleiben für die dritte Phase drei Regionen, die sich der Kontrolle des | |
| Regimes entziehen: der islamistisch dominierte Nordwesten, das kurdische | |
| Autonomiegebiet im Nordosten und der gemäßigte Süden. Wie entschlossen | |
| Assad diese für sich beanspruchen wird, hängt von der Haltung des Auslands | |
| ab. Betrachten die USA Idlib wegen der dortigen Al-Qaida-Präsenz nur noch | |
| als Terrorproblem, droht den Menschen eine vernichtende Anti-Idlib-Allianz. | |
| Sollten Amerikaner und Europäer in Syrien noch mitreden wollen, müssten sie | |
| die Provinz Daraa und die Kurdengebiete effektiv schützen und demokratische | |
| Strukturen dort fördern. | |
| Assads Rückeroberung Syriens kann Jahre dauern und wird nie vollständig | |
| sein. Denn seine Macht muss er sich längst mit deren Garanten teilen. Ohne | |
| Iran und Russland ist er verloren, im Land muss er Milizenführer und | |
| Regime-nahe Geschäftsleute entlohnen. Korruption, Vetternwirtschaft und | |
| Willkür nehmen dadurch weiter zu, die Ursachen des Aufstands bestehen fort. | |
| Frieden werden die Syrer deshalb nicht finden, höchstens Friedhofsruhe – | |
| durchgesetzt mit geheimdienstlicher Unterdrückung, Enteignung und | |
| Vertreibung sowie das systematischen Töten von Zivilisten in den | |
| Haftzentren des Regimes. | |
| 9 Oct 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Kristin Helberg | |
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