# taz.de -- Rakka markiert einen Wendepunkt: Nach dem Ende des Kalifats | |
> Der IS hat seine Hochburgen in Syrien und im Irak verloren. Jetzt rücken | |
> die alten Konflikte wieder auf die Tagesordnung | |
Bild: Angehörige eines in Rakka getöteten Kurden beten an seinem Grab in Koba… | |
Kairo taz | Die gute Nachricht zuerst: Der „Islamische Staat“ (IS) hat im | |
Irak und in Syrien fast sein gesamtes Territorium verloren, mit Ausnahme | |
einige kleiner ländlicher Gebiete am Euphrat und in Deir al-Sor, seinem | |
letzten urbanen Zentrum in Ostsyrien. Und nun die schlechte Nachricht: Auch | |
nach einem Ende seiner territorialen Existenz und seines Kalifats wird die | |
Region nicht zur Ruhe kommen. | |
Als militante, radikale Ideologie wird der IS unter dem gleichen oder | |
anderem Namen wohl weiterexistieren – als Vollstrecker oder Anstifter von | |
Anschlägen, auch in Europa. Die Rechnung ist einfach: Solange einige | |
grundsätzlichen Konflikte und politischen Probleme in der Region nicht | |
gelöst sind, solange wird die militante dschihadistische Ideologie ihre | |
Rekruten finden. | |
Mit dem Herannahen des Endes IS-Kalifats zeichnen sich schon die nächsten | |
Konflikte ab. Derzeit findet ein regelrechter Wettlauf um die letzten | |
IS-Territorien in Ostsyrien statt. Die von den USA unterstützen kurdisch | |
dominierten SDF-Milizen, die jetzt Rakka erobert haben, rücken vom Norden | |
aus weiter vor. Aus dem Süden kommt die syrische Armee mit russischer und | |
iranischer Unterstützung. Vom Sieger wird abhängen, wie die Ordnung in | |
Ostsyrien nach dem IS aussehen wird. Regimetreue Friedhofsordnung – oder? | |
Die arabisch-kurdischen Milizen träumen von politischen Spielräumen | |
jenseits des Regimes in Damaskus, die kurdischen Milizen von einer | |
Unabhängigkeit von Syrien, wenngleich sie derzeit von einer Autonomie | |
innerhalb der Landesgrenzen sprechen. Und sind die Feierlichkeiten rund um | |
die Befreiung Rakkas erst einmal beendet, wird dort ziemlich schnell wider | |
die alte kurdisch-arabische Konkurrenz auftreten, auch wenn die dort | |
anwesenden US-Truppen versuchen werden, das Anti-IS-Bündnis | |
zusammenzuhalten. | |
## Die Anti-IS-Koalition im Irak zerfällt | |
Dass die Amerikaner an dieser Aufgabe scheitern, zeigt sich im benachbarten | |
Irak. Sobald dort der gemeinsame Gegner fehlte, zerfiel die | |
Anti-IS-Koalition der arabischen Zentralregierung in Bagdad und den Kurden | |
im Norden des Landes. Der neu entflammte, alte Streit wurde ausgetragen um | |
die nordirakische Ölstadt Kirkuk mit ihrer kurdisch-arabischen Bevölkerung. | |
Doch die vergangenen Tage haben mit der Einnahme von Kirkuk und Sindschar | |
bewiesen, dass die Anti-IS-Koalition im Irak nicht nur zwischen Kurden | |
und Arabern auseinanderfällt, sondern auch unter den Kurden. Drei Wochen | |
nach dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum hat die Zentralregierung in | |
Bagdad das angewandt, was bei den Kurden fast immer funktioniert: eine | |
Politik des Teilens und Herrschens. | |
Das ist im kurdischen Nordirak relativ einfach, denn die kurdische | |
Autonomie hat kaum selbstständige staatliche Institutionen hervorgebracht. | |
So bleibt die dortige Politik weiterhin den traditionellen Differenzen | |
zweier Familienclans verhaftet: den Barsanis und ihrer Partei KDP, die mit | |
Erbil und Dohuk den Westen der Autonomiegebiete kontrollieren, und den | |
Talabanis, die in Suleimania im Osten herrschen. Mit einem von den Barsanis | |
initiierten Unabhängigkeitsreferendum versuchten diese vor drei Wochen, | |
die Oberhand zu gewinnen. Die Talabanis machten zähneknirschend mit, weil | |
sie nicht als Antinationalisten dastehen wollten. | |
Derweil gilt: Wollten die Barsanis eine Unabhängigkeit von Bagdad, setzten | |
die Talabanis eher auf eine Unabhängigkeit von den Barsanis auch im | |
Einvernehmen mit Bagdad. Ein Deal zwischen Bagdad und den Talabanis über | |
den kurdischen Rückzug aus Kirkuk war die Konsequenz dieser Konstellation. | |
Verlierer sind beide kurdischen Parteien. Und im Hintergrund stehen | |
radikalere Fraktionen bereit, wie die türkisch-kurdische PKK oder die | |
Salafisten, um das politische Vakuum im Nordirak zu füllen. | |
## Alte Konflikte brechen wieder auf | |
Lachender Dritter ist die Regierung in Bagdad. Deren Truppen sind in den | |
vergangenen Tagen fast kampflos in in Kirkuk und Sindschar eingezogen. Aber | |
Bagdad muss vorsichtig agieren. Wenn die Regierung zu sehr triumphiert, | |
kann das die Kurden wieder zusammenschweißen. | |
Die Uhren in der Region sind wieder zurückgestellt: Weg vom IS und seinen | |
Gegnern und hin zu den zahllosen alten Konflikten. Mit dem baldigen Ende | |
des IS-Kalifats ist der Nahe Osten sicherlich nicht stabiler, aber auf | |
jeden Fall wieder komplizierter geworden. | |
19 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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