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# taz.de -- Gründer von „Adopt a Revolution“: „Dramatisches Versagen des…
> Tausende AktivistInnen gingen in Syrien 2011 auf die Straße. Davon ist
> nichts mehr übrig. Schuld daran ist auch die deutsche Linke, sagt Elias
> Perabo.
Bild: Proteste in Syrien, 2012: „Viele dachten, wenn sie für Freiheit auf di…
taz: Herr Perabo, Sie haben die Organisation „Adopt a Revolution“ vor fünf
Jahren gegründet, um den gewaltfreien Widerstand gegen das Assad-Regime in
Syrien aus Deutschland zu unterstützen. Gibt es in Syrien überhaupt noch
gewaltfreien Widerstand?
Elias Perabo: Ja, aber der zivile Widerstand hat sich seit Beginn der
Aufstände sehr gewandelt.
Inwiefern?
Wir können von drei Phasen sprechen: Am Anfang demonstrierten die Menschen
massenhaft und gewaltfrei gegen das Assad-Regime. Die massive Gewalt des
Sicherheitsapparates als Antwort darauf führte dann leider auch zu einer
Militarisierung von Teilen der Opposition. In dieser zweiten Phase bauten
diejenigen, die sich dem unbewaffneten Widerstand zugehörig fühlten, lokale
Hilfsorganisationen auf, um das Überleben vor Ort zu ermöglichen. Und
inzwischen ist zu erkennen, dass sich inmitten des Kriegs doch ziemlich
beständige zivilgesellschaftliche Strukturen gebildet haben, die dem Grauen
zum Trotz zivile Räume verteidigen.
Wie kann man sich diese Strukturen vorstellen?
In Erbin, einem Vorort von Damaskus, unterstützen wir zum Beispiel eine
freie Schule, in der es keinen Religionsunterricht gibt. Den GründerInnen
ist das wichtig, da sich der Konflikt in Syrien zunehmend konfessionell
auflädt und dschihadistische Gruppen versuchen, in dieser Situation auch
Bildung zur Rekrutierung zu nutzen. Im selben Ort haben AktivistInnen ein
ziviles Zentrum mit einer Bibliothek aufgebaut, um der Bevölkerung trotz
täglichem Granatenbeschuss Zugang zu Bildung zu ermöglichen. In einer
anderen Stadt, in den kurdisch geprägten Gebieten, fördern wir eine Gruppe,
die Versöhnungsworkshops zwischen verschiedenen ethnischen und
konfessionellen Gruppen anbietet. Damit soll ein dritter Weg geebnet
werden, der sich sowohl von der Assad-Diktatur abhebt als auch vom
religiösen Extremismus.
Ist der Glaube an einen Wandel auf staatlicher Ebene, für den die Leute
2011 auf die Straße gegangen sind, noch da?
Nein. Einerseits hat die Bewaffnung des Widerstands dazu geführt, dass es
zig oppositionelle militärische Gruppen gibt, die sich teilweise
untereinander bekämpfen. Andererseits hat das Assad-Regime in den
vergangenen Jahren deutlich gezeigt, dass es keineswegs kompromissbereit
ist. Lieber zerstört das Militär das eigene Land, als dass es Abstriche bei
der totalitären Herrschaft des Assad-Clans zulassen würde. Vielleicht sähe
das anders aus, wenn die Weltgemeinschaft an irgendeinem Punkt auf die
massiven Verbrechen bis hin zum wiederholten Einsatz von Giftgas konsequent
reagiert hätte.
Darauf hatten die AktivistInnen der ersten Stunde gehofft.
Ja. Viele dachten, wenn sie für die universellen Werte von Freiheit und
Pluralität auf die Straße gehen, sich von radikalen Islamisten abgrenzen,
dann bekommen sie Schutz und Unterstützung durch die internationale
Gemeinschaft, insbesondere durch Europa und die USA, die solche Werte gerne
hochhalten.
Aber dieser Schutz kam nie.
Als Reaktion darauf haben sich viele vom westlichen Modell der Humanität
abgewandt. Sie mussten mit ansehen, dass die Weltgemeinschaft nicht einmal
beim Einsatz von Giftgas und dem Verhungern von Kindern reagiert und dass
sich hierzulande selbst nach größten Menschenrechtsverletzungen kaum jemand
zu Demonstrationen und Mahnwachen aufraffen konnte. Das ist ein
dramatisches Versagen des Westens, vor allem aber der links orientierten
Politik.
Wieso der Linken?
Von einem Großteil der deutschen und europäischen Linken wurde das
Schutzbedürfnis der Menschen in Syrien jahrelang ignoriert. Anstatt sich
mit der Dramatik des Konflikts zu befassen und Ideen zu spinnen, wie das
Blutvergießen beendet werden könnte, sah ein großer Teil der
Friedensbewegung einen großen Erfolg darin, dass der Westen nichts
unternahm. Anders als etwa in Ägypten blieb eine breite Solidarität mit den
AktivistInnen aus, deren Proteste passten erst einmal nicht in das linke
Weltbild.
Wie meinen Sie das?
Der Aufstand in Syrien war dezentral, unorganisiert, ohne festes
politisches Programm – also keine ideologische Revolution, wie bei den
Unabhängigkeitskämpfen in Südamerika. Es gab keine große Erzählung von der
Befreiung von imperialistischen Mächten mehr. Außerdem hatten der
Irak-Krieg und die Nato-Intervention in Libyen aus gutem Grund für viel
Verunsicherung gegenüber einer Einmischung gesorgt, denn in beiden Fällen
vergrößerte die Intervention die Instabilität. Diese Zurückhaltung will ich
erst einmal niemandem vorwerfen.
Was werfen Sie der deutschen Linken denn dann vor?
Dass die Debatte, wie legitime Schützbedürfnisse der Menschen in Syrien
aussehen könnten, nicht einmal geführt wurde. Wir müssen uns immer wieder
bewusst machen: In unserer mittelbaren Nachbarschaft wurden in den
vergangenen sechs Jahren über 500.000 Menschen getötet – und dieser Krieg
geht erbarmungslos weiter. Hier bräuchte es eine kritische linke
Friedenspolitik, die sich auch mit unangenehmen Fragen auseinandersetzt.
Doch anstatt sich mit den Menschen in Syrien zu beschäftigen, wärmen viele
von Sahra Wagenknecht bis zur Jungen Welt das alte Ressentiment wieder auf,
die USA seien an allem schuld. Mit der Realität der Menschen in Syrien hat
das überhaupt nichts zu tun. Die wollten einfach nur, dass ihnen jemand
hilft und sie vor Leid und Tod bewahrt.
Sie haben einen offenen Brief von Mitgliedern des wissenschaftlichen
Beirates des globalisierungskritischen Netzwerks Attac erhalten. Die
kritisieren Ihren Protest vor der russischen Botschaft im letzten Winter,
eine Reaktion auf die russischen Bombardements in Syrien.
Der Brief als solcher ist ein Trauerspiel. Kriegsverbrechen müssen beim
Namen genannt werden – egal, ob sie von den USA, Russland oder sonst wem
begangen werden. Im letzten Winter führte Russland nicht nur einen
erbarmungslosen Kampf gegen die Aufständischen in Aleppo, sondern verfolgte
die Strategie, jedes zivile Leben unmöglich zu machen. Gemeinsam mit dem
syrischen Regime zerstörte die russische Luftwaffe systematisch Schulen und
Krankenhäuser, was nicht nur zahlreiche internationale Organisationen wie
Ärzte ohne Grenzen oder Amnesty International kritisieren, sondern auch die
UNO als dramatisches Kriegsverbrechen bezeichnet. Die Autoren von Attac
verbitten sich jedoch jegliche Kritik an Russland und relativieren diese
Gewalt: Nicht die syrische Diktatur sei am Syrienkonflikt schuld, sondern
allein die USA. Das Schutzbedürfnis der bombardierten Menschen wird mit
keinem Wort erwähnt. Eine so vereinfachte wie falsche geopolitische Analyse
hat mit Friedenspolitik nichts zu tun und übersieht, dass wir längst nicht
mehr in der bipolaren Welt der 1980er Jahre leben. Hinzu kommt, dass der
alleinige Fokus auf Geopolitik keine ausreichende Erklärung für den
Syrienkonflikt gibt.
Warum?
Nicht nur die Interessen verschiedener Staaten spielen in Syrien eine
Rolle, sondern auch interne, sozioökonomische Dynamiken. Der Aufstand geht
doch nicht auf die Interessen der Weltmächte zurück, sondern auf die
Brutalität des Regimes. Korruption, wirtschaftliche Perspektivlosigkeit und
fehlende Freiheit haben die Menschen auf die Straßen getrieben. Schließlich
machen ja auch Assad und die loyalistischen, bewaffneten Gruppen nicht
einfach nur das, was Russland sagt – es gibt viele völlig unterschiedliche
Fraktionen jenseits der Großmächte, die ihre eigenen Agenden verfolgen.
Diese Eigenständigkeit zu ignorieren bedeutet, den Menschen in Syrien ihre
Mündigkeit abzusprechen, sie zu Marionetten der Weltpolitik zu degradieren.
Natürlich tragen Fehler des Westens zur Situation in Syrien bei, etwa die
Grenzziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, und natürlich begehen auch die
Amerikaner Kriegsverbrechen im Kampf gegen den IS. Aber der viel größere
Skandal ist doch, dass der Westen daran scheitert, den Menschen in Syrien
wenigstens rudimentären Schutz vor der kriegerischen Aggression zu
gewährleisten: In diesem Konflikt werden Tausende zu Tode gefoltert, viele
verhungern buchstäblich aus Mangel an Hilfslieferungen, Menschen ersticken
an Giftgas und ganze Wohnviertel werden mit Brand- und Streumunition dem
Erdboden gleich gemacht. Indem die Welt tatenlos zuschaut, beschädigt sie
im Endeffekt das gesamte System universell gültiger Werte.
Ist das nicht eher ein Problem der internationalen Gemeinschaft?
Schon, aber gleichzeitig sind diese universellen Werte etwas Urlinkes.
Frieden und Menschenrechte, dafür hat die Linke mal gekämpft. Wir können
doch nicht wollen, dass sich linke Friedenspolitik darauf reduziert zu
protestieren, wenn die Nato droht einzugreifen.
Haben Sie versucht, diese Debatte hier in Deutschland zu führen?
Ja, und wir werden uns auch intensiv weiter für eine neue, proaktive
Friedenspolitik einsetzen. Auf unserer Internetseite veröffentlichen wir
gerade eine Reihe von Texten von syrischen Linken, die über ihr Verhältnis
zur Linken in Europa schreiben. Deren Einschätzungen machen deutlich: Diese
Selbstgefälligkeit, mit der hier diskutiert wird, diese Ignoranz und dieser
Paternalismus sind überhaupt nicht akzeptabel. Im Endeffekt ist die Frage
doch: Lernen wir als Linke und als Friedensbewegung etwas aus dem Scheitern
in Syrien? Oder schauen wir beim nächsten Mal einfach wieder weg?
25 Oct 2017
## AUTOREN
Lucia Heisterkamp
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