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# taz.de -- Politikwissenschaftler über die Wahl: „Die AfD wird bleiben“
> Linksliberale Kosmopoliten sind für den Erfolg der Rechtspopulisten
> mitverantwortlich, sagt der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel.
Bild: Nicht nur negativ: Rechtspopulisten in der Opposition könnten sogar poli…
taz: Herr Merkel, Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt hat kürzlich
geschrieben: „Die AfD wird der große Gewinner dieses Wahlsonntags werden.
Alle Demokraten, die dies bedauern, sollten sich Gedanken darüber machen,
was sie falsch gemacht haben.“ Haben wir Demokraten was falsch gemacht?
Wolfgang Merkel: Natürlich haben die Demokraten etwas falsch gemacht, auch
wenn man den Aufstieg der Rechtspopulisten nicht alleine dadurch erklären
kann. Der ist ein gesamteuropäisches und transatlantisches Phänomen. Zu den
Fehlern gehört sicherlich eine nicht ganz offene Debatte über bestimmte
Fragen, ganz vorneweg die Flüchtlingsfrage. Verallgemeinert gesagt: Wir
haben zu sehr eine liberale Hegemonie des Diskurses etabliert, die viele
Menschen, insbesondere das untere Drittel der Gesellschaft nicht mehr
repräsentiert. In die Repräsentationslücke sind die Rechtspopulisten
eingerückt.
Manifestiert sich in der AfD nicht nur der Teil der Bevölkerung, der – wie
Studien belegen – schon immer rechtsradikale Einstellungen hatte?
25 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind anfällig für antisemitische
oder rassistische Thesen. Damit liegen wir im europäischen Durchschnitt.
Dieses Potenzial ist bislang nicht abgerufen worden, weil Deutschland
aufgrund seiner Vergangenheit ein Tabu hatte: Rechtspopulistische Parteien
werden nicht in den Kreis der Etablierten aufgenommen. Dieses Tabu ist
gebrochen. Die Wähler der AfD sind aber wahrscheinlich bestenfalls zur
Hälfte Hardcore-Rassisten oder Nationalisten. Der Rest ist ein
fluktuierender Protest, der durch einen überschießenden Kosmopolitismus mit
produziert worden ist.
Also durch uns selbst? Sie unterteilen die Bevölkerung in Kosmopoliten und
Kommunitaristen …
Die große Konfliktlinie im 20. Jahrhundert war jene zwischen Kapital und
Arbeit, ein Verteilungskonflikt um Rechte, Einkommen und Lebenschancen.
Jetzt bildet sich eine neue Konfliktlinie, die die andere nicht vollkommen
verdrängt, aber zum Teil durchschneidet. Auf der einen Seite stehen
Kosmopoliten. Sie befürworten offene Grenzen für Güter, Kapital,
Dienstleistungen, aber auch für Immigranten und Flüchtlinge. Und sie sind
für die Abgabe von politischen Kompetenzen an internationale Organisationen
oder supranationale Regime. Sie sind die Gebildeteren und
Besserverdienenden unserer Gesellschaft, die Gewinner der Globalisierung.
Und die Kommunitaristen?
Sie sind für eine stärkere Schließung von Grenzen sowohl bezüglich
wirtschaftlichen Transaktionen als auch gegen Migranten und Flüchtlinge.
Sie sind gegen die Abgabe von nationalstaatlichen Kompetenzen.
Sozialstrukturell sind sie eher die Verlierer der Globalisierung. Ihr
Human- und Kulturkapital ist stark auf lokale Kontexte angewiesen, das
heißt, sie finden sich im Ausland schwerer zurecht und Jobs auch nur im
nationalen Raum. Der Superkosmopolit kann dagegen in Zürich, New York oder
Berlin leben und arbeiten, weil er überall einen Job findet.
Der Wahlkampf 2013 ging noch um klassische Verteilungsfragen, um Steuern
und Mindestlohn. Warum ist der Konflikt jetzt so virulent geworden?
Deutschland erlebt eine nachholende Europäisierung. Österreich war mit
Haider ebenso Vorreiter wie Frankreich mit Le Pen, danach haben wir die
postmoderne Variante des Rechtspopulismus in den Niederlanden mit Pim
Fortuyn gesehen. 2015 kam die Flüchtlingsfrage …
… in der die Kosmopoliten Merkels Flüchtlingspolitik begrüßt haben.
Angesichts der humanitären Katastrophe, die zunächst in Budapest gedroht
hat, haben wir uns sofort positioniert. Menschenrechte sind nicht
nationalstaatlich begrenzt, sondern universell. Das ist ein Credo der
Kosmopoliten. Die Kommunitaristen haben dagegen, vor allem als der
Flüchtlingszustrom weiter anhielt, Konkurrenz etwa auf dem Job- und
Wohnungsmarkt befürchtet. Ich finde: Budapest war richtig, die
unkontrollierte Einreise ohne Begrenzung in den Monaten danach war ein
Politikfehler. Die Abwehrmechanismen gegenüber einer so hohen Zahl von
Flüchtlingen haben auf beiden Seiten die Positionen verstärkt und
verhärtet.
Dass die Forderung nach offenen Grenzen so breiten Widerhall findet, ist
neu. Sind nicht nur die Kommunitaristen kommunitaristischer, sondern auch
die Kosmopoliten kosmopolitischer geworden?
Die Kosmopoliten haben in den letzten Jahren zu Recht immer mehr liberale
Minderheitenrechte thematisiert und damit unsere Demokratie weiter
demokratisiert. Wir haben für alle möglichen sexuellen Präferenzen zu Recht
Gleichberechtigung gefordert, bis hin zu Transgender. Ich komme gerade aus
Harvard, dort gibt es eine so intensive Debatte darüber, als ginge es um
die Beendigung des Syrienkrieges. Die kosmopolitische Linke ist heute
hochsensibel bezüglich der Unterdrückungsmechanismen gegenüber Minderheiten
und der Dritten Welt, will aber von der Verteilungsfrage im eigenen Land
nichts mehr wissen – davon, dass bei uns auch rund ein Viertel der
Gesellschaft abgehängt worden ist.
Weil die Kosmopoliten zu den Globalisierungsgewinnern zählen und sich nicht
in andere Welten einfühlen können?
Das ist nicht einfach zu beantworten. Die Antwort „Wir sind nicht mehr da
unten“ ist mir zu einfach. Auch die 68er haben ja nicht zu den
Unterprivilegierten der Gesellschaft gehört, sondern für diese als eine Art
Anwalt sprechen wollen. Ich glaube, die kulturelle Modernisierung hat die
Verteilungsfrage einfach weggeschoben, die Progressivität ist in kulturelle
Fragen hinein kanalisiert worden. Die Grünen leben besonders stark davon.
Die Umweltfrage gehört ebenfalls zu den postmateriellen Themen – und ist,
wie die Grünen gemerkt haben, für sie auch risikoloser als ein
Steuerumverteilungswahlkampf wie 2013. Ob es mit jetzigen Umweltwahlkampf
klappt, ist eine andere Frage. Aber das liegt auch an dem jetzigen
Führungsduo, das jeglichen Charismas entbehrt.
Wie kann man die Kommunitaristen zurückholen, bei der übernächsten Wahl
wieder demokratisch zu wählen?
Eine kleine Präzisierung. Ich würde etwa bei AfDlern immer das Adjektiv
chauvinistisch oder nationalistisch vor den Begriff Kommunitaristen setzen.
Im Kommunitarismus gibt es ja andere, sehr ehrenwerte Positionen, etwa die
von Michael Walzer. Wie man die nationalistischen Kommunitaristen
zurückholt? Der nicht besonders mustergültige Demokrat Franz Josef Strauß
hat gesagt, rechts von der CSU darf keine legitime Partei entstehen. In dem
Moment, wo die CDU in die Mitte gerückt ist, hat sie eben diesen rechten
Raum freigemacht. Also man könnte nach der Strauß’schen Strategie wieder
den rechten Raum besetzen. Das macht die CDU ja gerade in der jüngsten
Flüchtlingspolitik .
Was ist mit dem rot-rot-grünen Lager? Es hat auch deshalb keine Mehrheit,
weil ein Teil der eigenen Wähler zur AfD übergelaufen ist.
Ja, mit Ausnahme der Wähler der Grünen. Sie sind eine kosmopolitische
Partei par excellence: für die Öffnung der Grenzen, hohes humankulturelles
Kapital der Anhänger. Die Lage bei der SPD ist komplizierter. Sie hat sich
in der Flüchtlingspolitik als Partei des donnernden Sowohl-als-auch
präsentiert, wie es Willy Brandt einmal genannt hat. Aber sie waren viel
donnernder auf der kosmopolitischen Seite. Die Sozialdemokraten sind in
Deutschland wie in ganz Europa inzwischen zum größten Teil
mittelschichtsorientiert und kosmopolitisch. Das hat den anderen Teil, die
traditionelle Arbeiterschaft, zu einer leichten Beute der Rechtspopulisten
werden lassen. Wenn die SPD stärker die kommunitaristischen Tendenzen
bedient, verstört sie zu viele auf der kosmopolitischen Seite. Deshalb wird
sie ambivalent bleiben und beide Seiten bedienen müssen, was der
Glaubwürdigkeit schadet.
Und die Linkspartei?
Als kleine Partei kann sie das viel besser. Sie kann die rechte
Antiglobalisierungskritik, die viele Rechtspopulisten äußern, durch eine
linke Antiglobalisierungspolitik kontern. Sie kann im Sinne von Wagenknecht
sagen: Europa hat große Probleme, ein neoliberales Wirtschaftskonzept,
folgt den eigenen Regeln selten, erlaubt Deutschland, den Südeuropäern eine
calvinistische Lebensform vorzuschlagen. Außerdem geht Deutschland in der
Finanz- wie Flüchtlingspolitik einen moralischen Sonderweg und fühlt sich
anderen Europäern moralisch überlegen. Mit solchen Aussagen bindet die
Linkspartei Menschen, die sonst AfD wählen würden. Wir wissen aus
Frankreich, dass vom Niedergang der Kommunisten vor allem der Front
National profitiert hat.
Bleibt trotz allem die AfD?
Ja, es gibt dafür ein deutliches Potenzial. Wenn aber nicht wieder eine
Krise auftritt wie 2015, bleibt die AfD aber unter dem europäischen Niveau.
Als nichtbeabsichtigten Effekt des Auftretens der Rechtspopulisten haben
wir auf der positiven Seite eine Intensivierung der politischen Debatte.
Das gilt für ganz Europa, gilt aber auch für Deutschland. Drei Jahrzehnte
haben wir über Politikverdrossenheit gejammert. Jetzt diskutieren wir
wieder große Fragen.
In Österreich diskutieren die Sozialdemokraten, ob sie mit der FPÖ
koalieren sollen.
Die FPÖ ist mit 25 Prozent ein anderer Faktor als in Deutschland. Die SPÖ
kann, wenn sie eine solche Koalition ausschließt, immer nur in eine große
Koalition gehen. Also öffnet sie sich strategisch etwas. Dennoch: Mit
solchen Parteien soll man keine Regierungskoalitionen eingehen.
Warum?
Der Einfluss von Rechtspopulisten auf die Demokratie hängt stark davon ab,
ob sie in der Opposition oder in der Regierung sind oder ob sie gar wie in
Polen und Ungarn dominant in der Regierung sind. In der Opposition können
sie wie erwähnt einen politisierenden Effekt haben, weil sie politische
Debatten und eine Gegenmobilisierung auslösen. Aber Rechtspopulisten in der
Regierung sind eindeutig demokratieschädlich. Sie schrauben den liberalen,
multikulturellen Teil unserer letzten Demokratisierungsdekaden zurück,
diskriminieren Minderheiten und demontieren rechtsstaatliche Institutionen.
22 Sep 2017
## AUTOREN
Martin Reeh
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