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# taz.de -- Partei Demokratie in Bewegung: „Softwareupdate“ für die Politik
> Beim Wahl-O-Mat stand Demokratie in Bewegung bei vielen an erster Stelle.
> Kurz vor der Wahl will die neue Partei auch offline präsent sein.
Bild: Im Straßenwahlkampf: Sara Redolfi, Berliner Spitzenkandidatin von Demokr…
Berlin taz | Bianca Praetorius lehnt auf der Stehleiter an der
Straßenlaterne, zwischen den Zähnen ein paar Kabelbinder. Sie legt zwei
Plakate mit dem Rücken aneinander um den Laternenmast, knickt die Falz ein
und zurrt sie fest. Es ist ihr erster Wahlkampf, und ihr Wille, etwas zu
bewegen, ist „größer als der Schmerz, etwas zu machen, was unsexy ist“.
Deshalb ist die 33-Jährige, die wochentags als Pitchtrainerin arbeitet, an
diesem Samstag früh aufgestanden, um im Kreuzberger Graefekiez Wahlplakate
für Demokratie in Bewegung aufzuhängen. „Sie wollen nur deine Stimme. Wir
wollen auch deine Ideen“, steht darauf. „Glaubt ihr noch an Demokratie?“,
fragt ein Passant im Vorbeigehen. Schräg gegenüber beobachtet ein älterer
Mann das Geschehen von seinem Balkon aus.
Bis vor Kurzem kannten nur wenige die Kleinpartei, denn es gibt sie erst
seit dem 29. April. An diesem Tag hat Demokratie in Bewegung, entstanden
aus dem Umfeld der Petitionsplattform change.org, online 100.000 Stimmen
gesammelt. Für die Mitglieder war das der Beweis, dass es bei den
Wähler*innen das Bedürfnis nach einer Utopie gibt. Innerhalb von wenigen
Wochen gründeten sie Landesverbände in allen 16 Bundesländern, im Juli
wurden sie vom Bundeswahlleiter zur Wahl zugelassen.
Beim Wahl-O-Mat stand Demokratie in Bewegung, kurz DiB, plötzlich bei
vielen an erster Stelle. Seitdem reden die Leute online über die neue
Partei. Doch auf den letzten Metern vor der Wahl ist es entscheidend,
offline präsent zu sein. Deshalb haben die Mitglieder von DiB den Wahlkampf
auf die Straße verlegt.
Demokratie in Bewegung will das Konzept Partei neu denken. Die Mitglieder
finden, dass die deutsche Politik „ein Softwareupdate“ braucht, wie
Bianca Praetorius das nennt. Sie steht in Berlin auf Listenplatz 5. DiB
funktioniert selbst ein bisschen wie eine Petitionsplattform. Gegen die
Politik des kleineren Übels bringt sie Mitbestimmung ins Spiel: Bei DiB
kann jeder mitdiskutieren und Initiativen einbringen, auch ohne
Parteimitglied zu sein. Über diese Initiative können die „Beweger*innen“,
also registrierte Nutzer*innen, abstimmen – alles online.
## Wahlprogramm ausschließlich aus Initiativen
Die digitalen Abstimmungsforen heißen bei DiB „Marktplatz der Ideen“ und
„Plenum“. Das klingt nach Mitmachdemokratie. Entscheidet sich nach einer
Überarbeitungsphase eine Mehrheit für die Initiative, wird sie ins
Parteiprogramm aufgenommen. Mit ihrem Initiativprinzip will die Partei eine
Alternative sein für all jene, die sich von den Parteien nicht
repräsentiert fühlen. Einzige Voraussetzung: Die Initiativen müssen den
Grundwerten der Partei entsprechen – Demokratie, Transparenz und
Mitbestimmung, soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit, Weltoffenheit und
Vielfalt, Nachhaltigkeit und Zukunftsorientierung.
Politik von unten ist bei der Partei Programm, genauer gesagt Wahlprogramm:
Das besteht ausschließlich aus Initiativen der Beweger und wurde Ende
August auf dem Parteitag in Köln verabschiedet. „Wir haben ein Produkt
entwickelt, mit dem die Menschen wieder politikbegeistert werden, weil sie
merken, dass sie selber wirksam sein können und ihre Interessen vertreten
können“, sagt Sara Redolfi, Spitzenkandidatin von DiB in Berlin. Die Partei
will sich politisch bewusst nicht verorten, „um niemanden abzuschrecken,
der ein wichtiges Thema hat, das er einbringen will“. Was kommt heraus,
wenn die Wähler*innen selbst entscheiden, welches Programm sich die Partei
geben soll? Bei DiB ein linkes Programm.
Sara Redolfi sagt von sich, sie stehe politisch links. „Aber die Linke ist
mir zu ideologisch.“ Die 31-Jährige, die im Auswärtigen Amt arbeitet,
verteilt Parteiflyer auf dem Wochenmarkt am Kreuzberger Hohenstaufenplatz.
An diesem regnerischen Samstag sind nur wenige Menschen auf den Straßen
unterwegs. Die Erste, die Redolfi anspricht, ruft im Vorbeieilen: „Ich habe
schon gewählt.“
Der Zweite, ein junger Mann mit schwarzen Haaren und Funktionsjacke, bleibt
stehen. „Weißt du schon, wen du wählst?“, fragt Redolfi und sagt, ohne die
Antwort abzuwarten, dass DiB für mehr Vielfalt und Weltoffenheit stehe. Der
Mann kontert, er habe auch eine Frage, er sei Türke: „Wie stehen Sie zu
Erdoğan?“ Sie ringt kurz um Worte. „So schwierig das ist, im Volksentscheid
ist eine basisdemokratische Entscheidung getroffen worden, hinter der die
Mehrheit steht“, antwortet sie dann. „Das sollte respektiert werden.“ Der
Mann nickt zufrieden und nimmt einen Flyer mit.
Die Kandidat*innen heißen bei DiB „Fürsprecher*innen“, Redolfi nennt sie
„Dienstleister*innen“: Ihre Aufgabe ist es ausschließlich, die
Mehrheitsentscheidungen der Beweger*innen zu vertreten. Und was, wenn man
nicht hinter dem Wahlprogramm steht? „Das war nie meine Angst“, sagt
Redolfi, „weil ich das Prinzip gut finde, dass die Mehrheit entscheidet.“
Wenn es nicht ihre Meinung sei, könne sie „trotzdem dahinterstehen – weil
die Mehrheit dafür ist.“
## Vielfaltsquote für Diskriminierte
Aber trifft die Mehrheit automatisch die besten Entscheidungen? Ja, findet
Redolfi. Die Grundwerte, die sich die Partei gegeben hat, verhinderten
zudem Initiativen aus der rechten Ecke. Gegen Unterwanderung will sich DiB
durch ein Bewerbungsverfahren für Neumitglieder schützen. Ein Rat, den sie
von Expirat*innen bekommen haben: lieber langsam und organisch wachsen.
„Als Partei wollen wir uns nicht selber zerstören, indem wir Leute an Bord
holen, die später diesen oder jenen Wert abschaffen wollen“, sagt Redolfi.
„Wir wollen als Partei so bleiben, wie wir sind, um ein effizienter
Dienstleister zu sein und dieses Produkt anbieten zu können.“
Um Gruppen zu repräsentieren, die oft nicht gehört werden, hat sich DiB
außerdem eine Vielfaltsquote für Menschen gegeben, die wegen ihrer
Herkunft, Hautfarbe, einer Behinderung oder ihrer sexuellen Orientierung
diskriminiert werden.
Anett Polzin beginnt den Abend mit einer Inspiration. Die 51-jährige
Teamtrainerin steht auf Platz 3 der Berliner Landesliste und hat die
vergangene halbe Stunde alle persönlich begrüßt, die an diesem
Donnerstagabend zum DiB-Stammtisch ins Nachbarschaftscafé Madame gekommen
sind.
Auf Facebook waren 150 Leute interessiert an der Veranstaltung, jetzt
sitzen um die 50 an Tischen im Café verteilt. „Am 24. September werden wir
ein sehr schönes Ergebnis haben. Das ist meine Inspiration für heute“, sagt
Polzin und leitet zu den Kommunikationsregeln bei DiB über. Die stehen auf
einem Plakat an der unverputzten Wand: konstruktiv diskutieren, einfache
Sprache verwenden, keine Anglizismen, auf der Redeliste abwechselnd ein
Mann und eine Frau, beim Gegenüber von Wohlwollen ausgehen.
## Engagement und Europa
„Das ist der DiB-Spirit“, sagt Anett Polzin und fügt ein „yeahh“ an, d…
sie unterstreicht, indem sie ihre Hände nach links und rechts schüttelt,
wie man es von Audimaxbesetzungen kennt. „Das ist Applaus in
Gebärdensprache“, erklärt sie. Ihre Euphorie verfängt nicht recht im
Publikum. Die Leute lehnen ein wenig ermattet auf ihren Stühlen, die
Fragerunde kommt zögernd in Gang.
Schließlich fragt eine, wie die Partei mit Tatsachenbehauptungen in den
Initiativen umgeht. „Macht ihr einen Faktencheck?“ Dann meldet sich Chantal
aus Berlin zögerlich: „Wer sorgt dafür, dass die juristischen Dinge
eingehalten werden?“, fragt sie. „Man hat ja so viele Ideen, aber die
müssen ja leider ins System passen.“ Nicht auf alle Fragen hat Anett Polzin
eine Antwort parat. Aber sie kontert offensiv, erklärt, dass niemand bei
DiB ein Profi sei und alle Mitglieder ehrenamtlich arbeiteten.
Ein junger Mann fragt nach dem Menschenbild von DiB. Polzin findet, die
Gesellschaft brauche Vielfalt, jeder solle mit seinen Qualifikationen
berücksichtigt werden. „Ich habe nicht rausgehört, dass es eine Partei für
diejenigen ist, die keine Stimme haben. Was ist mit denen, die sich nicht
selbst einbringen können wegen diverser Barrieren?“, wird der junge Mann
nach der Veranstaltung sagen. Es ist seine erste Bundestagswahl, er ist
gekommen, um die Partei kennenzulernen. Die Partei will sich nicht
positionieren, findet der Student. Und sei nicht so vielfältig, wie sie
sein möchte, sondern ziemlich homogen.
In der letzten halben Stunde geht es im Nachbarschaftscafé um Engagement
und Europa. Ein Parteimitglied findet, man müsse sich „loslösen von diesem
Schubladendenken in rechts und links, es gibt gute Gedanken auf der einen
wie auf der anderen Seite“. Am Ende redet Anett Polzin von Empowerment.
„Frag dich, wie du für die Partei nützlich sein willst. DiB heißt
Eigenmacht, bring dich ein.“ Da applaudiert auch Chantal in
Gebärdensprache.
22 Sep 2017
## AUTOREN
Elisabeth Kimmerle
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
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