# taz.de -- Debatte Nachdenken über Protestwähler: Haben wir zu wenig diskuti… | |
> Macht es nicht, liebe wütende Wähler! Ihr hattet die Aufmerksamkeit, eure | |
> Wut wurde gehört, kommt endlich wieder zur Vernunft. | |
Bild: Demo im Sommer 2016 unter dem Motto: Merkel muss weg | |
„Die Flüchtlinge sollen zurückkehren“ – gerade als ich die Kolumne been… | |
will, tickert diese Meldung durch die Nachrichten. Es seien bereits zu | |
viele Flüchtlinge in Europa, hatte dieselbe Person zuvor gesagt. Die Person | |
gehört nicht der AfD an, es handelt sich um den Dalai Lama. Dieser | |
Glatzköpfige mit dem ewigen Lächeln, der die Wut in sich durch | |
stundenlanges Meditieren aufgelöst hat. Warum redet so einer wie ein | |
Wutbürger? Und das aus dem Exil. Man stelle sich vor, das käme von Alice | |
Weidel oder Frauke Petry. Während sie in der Schweiz im Asyl leben. | |
Es ist meine letzte Kolumne vor der Bundestagswahl, und ich schmeiße noch | |
einmal alles um, weil der Dalai Lama im italienischen Palermo Sätze wie | |
diese von sich gibt. Haben wir die Wutbürger zu ernst genommen? Gut, sowohl | |
der Papst als auch der Dalai Lama wollen unsere Seelen retten und keine | |
Stimmen bei der Bundestagswahl holen, daher können sie sagen, was ihnen die | |
Götter eingeben. | |
Solche Sätze von Weidel, Petry oder Gauland wären der nächste Aufschrei – | |
und noch ein paar Stimmen mehr für die neue Partei. Klar ist so eine | |
Kolumne absolut nicht in der Lage, auch nur einen Prozentpunkt am | |
Wahlausgang zu drehen. Oder auch nur drei Prozentpunkte in Richtung | |
Vernunft zu verschieben. Zumal keiner so genau weiß, wo die Vernunft auf | |
dem Wahlzettel zu finden wäre. | |
Es ist, als hätten wir uns die ganzen letzten Monate nur abgelenkt. All die | |
Empörungsfeuerwerke nach unzähligen Arenen und Talks waren kein politischer | |
Diskurs. Das war Empörungshysterie, die nun die AfD auch bundesweit als | |
Protestpartei etabliert hat. Viele denken: Die mit dem blauen Werbeplakat, | |
die sind Protest. Nicht eine relevante neue Idee gab es. Und wir alle haben | |
das unterstützt. Wenn man sich Parteimitglieder der Blauen auf ihren | |
Social-Media-Kanälen ansieht, dann sieht man ganz normale, verkrampfte, | |
relativ homogene Langweiler wie in anderen Parteien auch. Politik ist nun | |
mal nicht die Fashion Week, und die Vivienne Westwoods dieser Welt suchen | |
sich Arbeitszimmer ohne Aktenberge. | |
## Die SPD hat noch vier Tage | |
Die Inhalte sind den meisten Protestwählern doch völlig egal. Die Blauen | |
sind die Dagegen-Partei. Es ist schon brutal, sich klar zu machen, dass vor | |
gar nicht allzu langer Zeit der Dagegen-Titel den Grünen gebührte. Und eine | |
Auszeichnung war. So etwas wie Avantgarde. Jetzt verkaufen sich reaktionäre | |
Kräfte ihren Wählern plötzlich als die neuen Revoluzzer. Und die Grünen | |
sind nun – so wie Özdemir – der kleine schwäbische Cousin von Schäuble. | |
Selbst Lindner ist irgendjemandes kleiner Cousin, nur bei ihm wissen wir | |
nicht, wessen Cousin eigentlich. Der von Genscher eher nicht. | |
Die SPD wollte mit dem Thema Gerechtigkeit in die Mitte der Gesellschaft | |
vordringen und hat gemerkt, dass da nicht mehr viele sind. Sie hat noch | |
vier Tage, um das Wort Gerechtigkeit vor der Bedeutungslosigkeit zu retten. | |
Gerechtigkeit ist ein globales Wort, es endet nicht an deutschen Grenzen. | |
Aber es beginnt dort, wo mein Leben sich gerechter anfühlt, weil das eines | |
anderes ausgebeutet wird. Die Botschaft am Wahlabend darf nicht lauten: Mit | |
Gerechtigkeit kannst du in Deutschland keine Wahlen gewinnen. Das schuldet | |
man einem Land, das mit sozialer Marktwirtschaft der Welt lange Zeit | |
exemplarisch vorgelebt hat, was Gerechtigkeit bedeuten kann. | |
Ich wollte diese Kolumne furchtbarerweise erst so schreiben, wie etwa Heiko | |
Maas redet: Macht es nicht, liebe wütende Wähler! Ihr habt protestiert, ihr | |
hattet die Aufmerksamkeit, eure Wut wurde gehört, kommt endlich wieder zur | |
Vernunft. Ich wollte auch sagen: So scheiße geht es euch gar nicht, denn | |
selbst den Ärmsten geht es in Deutschland im Verhältnis immer noch gut. | |
Wenn eine Partei in den Bundestag kommt, die nicht einmal den Konsens der | |
deutschen Vergangenheitsbewältigung teilt, dann fangen wir ganz von vorne | |
an, versteht ihr? Wir fangen an einem Ort an, den schon Richard Weizsäcker | |
für uns überwunden hatte, als er am 8. Mai 1985 im Bundestag stand und es | |
endlich ausgesprochen hat: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“ | |
Ich wollte schreiben: Macht es nicht. Schmeißt noch einmal alles um: In dem | |
Moment, in dem ihr die Wahlkabine betretet, müsste doch der Protesthannes | |
erwachsen werden und sagen: Jetzt ist’s aber auch gut. | |
## Wir hätten reden müssen | |
Doch kurz vor der Wahl ist klar, dass man das so von oben herab nicht mehr | |
sagen kann. Denn: Wir haben viel zu wenig diskutiert. Auch Sätze wie die | |
des Dalai Lama hätten sagbar bleiben müssen. Der Maulkorb hat Helden | |
geschaffen. Helden, die keine Lösungen zu bieten haben für das Heute oder | |
Morgen. Wir hätten zugeben müssen: Wir haben genauso wenig eine Lösung zu | |
bieten. Und Angst haben wir im Grunde auch. Die brutale Wahrheit ist doch, | |
dass keiner von uns weiß, wie man sich durch eine Welt manövriert, in der | |
ein Trump von „totaler Zerstörung“ faselt, als hätte er noch nie ein | |
Geschichtsbuch in Händen gehalten. | |
Wir hätten reden müssen, auch über verbindliche Obergrenzen. Damit hätten | |
wir auf Dauer vielleicht 300.000 Menschen jährlich Schutz zugesichert. | |
Stattdessen wird jetzt nur noch über Abschiebungen diskutiert, weil 300.000 | |
tabu waren. Ist das besser? Tabubrüche haben aus No-names Politiker | |
gemacht, die in den Bundestag einziehen werden, um weitere Tabus zu | |
brechen. Es darf keine Tabus geben im öffentlichen Diskurs, sonst misstraut | |
man seinen Argumenten. | |
Jeder kennt den Satz: Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, frag, | |
was du für dein Land tun kannst. Auch so ein bescheuerter Satz, weil er | |
„dein Land“ sagt. „Dein Land“ ist so etwas, wogegen ein Weltbürger sich | |
wehrt. Es ist meine Welt. Aber dann wieder kannst du nur in diesem Land | |
dein Wahlkreuz setzen. Du kannst nur in diesem Land mit entscheiden, wohin | |
die Reise geht. Du kannst jedoch in jedem Land dafür beten, dass nicht | |
irgendein Größenwahnsinniger mit viel Geld im Koffer und dem Finger auf dem | |
Atomknopf sowieso alles über deinen Kopf hinweg entscheidet. | |
In diesem Sinne verneige ich mich auch vor dem Dalai Lama, trotzdem. | |
20 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Jagoda Marinić | |
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