| # taz.de -- Debatte Wirtschaftslage in Spanien: Die Krise ist nicht vorbei | |
| > Die spanische Wirtschaft erholt sich zwar. Doch die Kluft zwischen Arm | |
| > und Reich wird immer größer. Ein Jobwunder ist nicht in Sicht. | |
| Bild: In Spanien gibt es vor allem Jobs in der Tourismusbranche. Hier: Lloret d… | |
| „Von Spanien lernen heißt siegen lernen“ könnte das Motto lauten, ginge es | |
| nach Spaniens konservativem Ministerpräsidenten Mariano Rajoy. Immer wieder | |
| lobt er seine eigene Reformpolitik in höchsten Tönen, zuletzt auf dem | |
| G20-Gipfel in Hamburg. Die Krise, die dem Euro 2012 fast den Garaus | |
| machte, ist für Rajoy Geschichte. Die Zahlen geben dem Konservativen, der | |
| sich des Beifalls der restlichen europäischen Regierungschefs gewiss ist, | |
| recht: 2017 ist das dritte Jahr in Folge, in dem die Wachstumsrate bei über | |
| drei Prozent liegt. Die Arbeitslosigkeit ist von knapp 21 Prozent | |
| mittlerweile auf unter 18 Prozent gesunken. Das durch die Bauspekulation | |
| angeschlagene Bankensystem wurde erfolgreich mit EU-Geldern gerettet. | |
| Alles in bester Ordnung also? Nein! Denn was Rajoy geflissentlich vergisst, | |
| ist das, was unten davon ankommt. „Die Rechnung muss aufgehen – mit den | |
| Leuten darin“, lautet ein populäres Sprichwort aus dem Argentinien des | |
| Corralito. Wer diese Regel auf die europäische Krisenpolitik und speziell | |
| auf Länder wie Spanien – um von Griechenland ganz zu schweigen – anwendet, | |
| merkt schnell: Die Krise ist nicht vorbei. Denn Wachstum, Haushaltsdefizit | |
| und Bankensystem sind nicht alles – zumindest wenn die Analyse über die | |
| neoliberalen Dogmen hinausgehen soll. | |
| Mit 18 Prozent Arbeitslosigkeit lebt weiterhin jeder vierte Arbeitslose der | |
| Eurozone in Spanien. Über 43 Prozent der jungen Menschen sind ohne Arbeit. | |
| Die Hälfte der Arbeitslosen erhält keine Stütze mehr. Und wer sich die | |
| Beschäftigtenstatistik genauer anschaut, merkt schnell, dass der Rückgang | |
| der Arbeitslosigkeit nur bedingt etwas mit der Schaffung neuer | |
| Arbeitsplätze zu tun hat. | |
| So sind seit Beginn der Krise über doppelt so viele Spanier ausgewandert | |
| wie zuvor. Knapp 800.000 junge Menschen suchen Arbeit irgendwo in Europa | |
| oder Übersee. Viele Immigranten, die zur Zeit des Baubooms kamen, gingen | |
| zurück in ihre Heimat. Frustrierte Arbeitssuchende melden sich längst nicht | |
| mehr auf dem Arbeitsamt. Und: Die Gesellschaft veraltet. | |
| ## Prekäre Verträge | |
| All das führt zu einem Rückgang der arbeitenden Bevölkerung. Die Krise hat | |
| Spaniens Arbeitsmarkt grundlegend verändert. Industrielle Arbeitsplätze | |
| gingen verloren. Neue entstehen im Hotel- und Gaststättengewerbe. Dort | |
| liegt nicht nur das Lohnniveau weit unter dem, was in der Industrie und auf | |
| dem Bau üblich war; die Verträge sind prekär. Nur knapp acht Prozent der | |
| neuen Arbeitsverhältnisse sind mit einem festen Vertrag geregelt. Der Rest | |
| ist befristet und meist auch noch in Teilzeit. Selbst Verträge über eine | |
| Stunde Arbeit am Tag sind keine Seltenheit. | |
| Waren vor der Krise die „mileuristas“ – jene Menschen, die nur 1.000 Euro | |
| im Monat verdienen – beklagenswert, gehören sie jetzt zu den | |
| Besserverdienenden. Denn viele liegen weit darunter. Jeder Dritte kann von | |
| seinem Job nicht leben. Was die Konservativen Schaffung von Arbeitsplätzen | |
| nennen, ist eine Verteilung der Arbeit: Wo früher ein mehr oder weniger gut | |
| bezahlter Arbeiter angestellt war, sind es heute drei oder vier schlecht | |
| bezahlte. Berufseinsteiger und junge Menschen sind am meisten von dieser | |
| Entwicklung betroffen. Ihnen fehlt jede Zukunftsperspektive. Nur jeder | |
| Fünfte unter 30 Jahren zieht zu Hause aus. Im europäischen Schnitt ist es | |
| jeder Zweite. | |
| Die Erholung der spanischen Wirtschaft ist, auch wenn dies nach | |
| gewerkschaftlichem Flugblatt klingen mag, Sache der Reichen. Spanien ist | |
| mittlerweile eines jener Länder Europas, in denen die soziale Schere am | |
| weitesten auseinandergeht. 28,6 Prozent der Bevölkerung lebt unter oder an | |
| der Armutsgrenze. Während 2006 die reichsten 10 Prozent der Spanier über | |
| ein zehnmal so hohes Einkommen verfügten wie die unteren 10 Prozent, | |
| verfügen sie jetzt über 15-mal so viel. | |
| Die Löhne der unteren 10 Prozent sind um 28 Prozent zurückgegangen, die der | |
| Mittelschicht um 8 Prozent, während die Einkommen der Besserverdienenden | |
| ständig steigen. Noch immer verlieren täglich 189 Menschen ihre Wohnung | |
| oder sonst eine Immobilie durch Zwangsräumung. Gleichzeitig ist die Zahl | |
| der Millionäre im Laufe der Krise um mehr als 50 Prozent gestiegen. Eine | |
| Caritas-Studie zeigt, dass 70 Prozent der Spanier keinerlei Besserung ihrer | |
| Lage verzeichnen. | |
| ## Lob für Portugal | |
| Der soziale Kahlschlag geht trotz Wachstum weiter. Jahr für Jahr wird eine | |
| Obergrenze der Ausgaben für Regionen und Gemeinden festgelegt, bei | |
| gleichzeitiger Steuersenkung. Das führt zu weiteren Sparmaßnahmen und | |
| Privatisierungen, vor allem im Gesundheits- und Bildungswesen. Außerdem ist | |
| die Rentenkasse mittlerweile leer. Denn die Regierung bediente sich bei den | |
| Rücklagen, um eigenen Staatsanleihen aufzukaufen. Rund 70 Milliarden Euro | |
| verschwanden so aus der Sozialversicherung, die vor der Krise zu den | |
| bestabgesichertsten in Europa zählte. Gleichzeitig werden allein aus der | |
| Bankenrettung 60 Milliarden Euro wohl für immer verloren sein. Denn anders | |
| als in den USA, Deutschland oder Großbritannien zahlten die Banken die | |
| Hilfsgelder nicht zurück. | |
| Dass es auch anders gehen kann, zeigt der kleine Nachbar Spaniens: | |
| Portugal. Dort weicht eine sozialdemokratische Minderheitsregierung, die | |
| von linken Parteien unterstützt wird, seit Ende 2015 beharrlich und gegen | |
| den Widerstand aus Brüssel die Austeritätspolitik auf. Premier António | |
| Costa hob den Mindestlohn um 25 Prozent an. Kürzungen bei Renten und | |
| Gehältern im öffentlichen Dienst wurden zurückgenommen. | |
| Und soziale Programme, zum Beispiel gegen das Abdrehen von Strom und Gas | |
| bei Zahlungsunfähigkeit, wurden ins Leben gerufen. Außerdem nahm Costa | |
| teilweise die Mehrwertsteuererhöhung zurück. Die breite Mehrheit der | |
| Portugiesen hat so mehr Geld in der Tasche. Das kurbelt die Nachfrage an. | |
| Die Arbeitslosigkeit liegt erstmals seit Jahren wieder unter 10 Prozent. | |
| Der Staatshaushalt erholt sich. Die Zinsen für Staatsanleihen sinken. | |
| Während das viel gepriesene Spanien einmal mehr an den Maastrichter | |
| Defizitvogaben scheitert, lag Portugal 2016 erstmals unter der | |
| 3-Prozent-Marke. Selbst Schäuble lobt mittlerweile den portugiesischen | |
| Finanzminister als den „Ronaldo Europas“. | |
| 7 Sep 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Reiner Wandler | |
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