# taz.de -- Literaturfestival in Berlin: Eine Reise um die Welt in 12 Tagen | |
> Am Mittwoch beginnt das 17. Internationale Literaturfestival. Es ist eine | |
> Art Berlinale der Literatur, die seit 16 Jahren der unermüdliche Ulrich | |
> Schreiber stemmt. | |
Bild: Großer Enthusiast und Literaturliebhaber: Ulrich Schreiber vom Internati… | |
So mancher Literaturfan, der bei einem Besuch des morgen beginnenden | |
Internationalen Literaturfestivals zum ersten Mal Ulrich Schreiber erleben | |
darf, wird vielleicht verwundert sein. Dieser zerstreut wirkende Mann, der, | |
wie man leicht recherchieren kann, zunächst das Maurerhandwerk lernte, in | |
Abendkursen die Mittlere Reife machte und später als Architekt arbeitete? | |
Dieser Typ mit dem wirren Haar, der inzwischen auf die siebzig zugeht? | |
Das soll einer der wichtigsten Kulturmanager dieses Landes sein? | |
Wie hat es Ulrich Schreiber nur geschafft, mit dem Internationalen | |
Literaturfestival nicht nur das wichtigste Literaturfest dieser Stadt, | |
sondern eines der größten des ganzen Landes zu etablieren? | |
## Start in einer Wohnung | |
Das Ganze fing 2001 in Ulrich Schreibers Altbauwohnung in Charlottenburg | |
an, die er kurzerhand in das Büro des Festivals verwandelte, wo zehn | |
Menschen ein halbes Jahr lang an der ersten Ausgabe der Veranstaltungsreihe | |
arbeiteten. Vielleicht ist es kein Zufall, dass es ausgerechnet das Jahr | |
war, in dem zwei Flugzeuge ins World Trade Center krachten, war dies doch | |
einer jener Momente, in dem die Welt plötzlich unheimlich klein wurde. | |
Viele, die sich außer der eigenen vielleicht höchstens noch für die | |
Literatur Frankreichs interessierten, begannen plötzlich, Literatur aus | |
kleinen Ländern am anderen Ende der Welt zu lesen. | |
Ulrich Schreiber hatte einen Nerv getroffen, denn schon da hatte der damals | |
49-Jährige das Konzept, Autoren aus aller Welt nach Berlin zu holen, die | |
ihre neuen Bücher vorstellen durften – sie aber auch intensiv über Themen | |
sprechen und diskutieren zu lassen, die im Laufe des 16-jährigen Bestehens | |
immer akuter geworden zu sein scheinen: die Freiheit der Kunst, die Kraft | |
der Sprache, Toleranz, Demokratie, Gerechtigkeit. | |
Schreiber hat mit dem Internationalen Festival tatsächlich eine Art | |
Berlinale der Literatur geschaffen, auf der jeder eingeladen ist, auch noch | |
das nagendste Fernweh ein wenig in den Griff zu bekommen, auf der aber auch | |
jeder willkommen ist, der Lust auf Einmischung hat. | |
Von Anfang an war das Internationale Literaturfestival als | |
Low-Budget-Veranstaltung konzipiert, die Anzahl der Praktikantinnen, mit | |
denen sich Ulrich Schreiber Jahr für Jahr durchschlägt, ist legendär. | |
Kürzlich aber hat er sich – wie derzeit viele Veranstalter von Festivals | |
aus allen Rubriken in dieser Stadt – zu Wort gemeldet. | |
Es gehe so nicht weiter, sagte er. Seit über 15 Jahren bezieht Schreiber | |
dieselbe finanzielle Unterstützung aus dem Hauptstadtkulturfonds: Wie auch | |
das Poesiefestival im Frühling bekommt auch das Internationale | |
Literaturfestival 350.000 Euro im Jahr. Jedes Jahr muss er dieselben | |
Anträge ausfüllen, denn er bekommt nur eine projektbezogene Regelförderung | |
und daher, wie er sagt, zu wenig Planungssicherheit. | |
Hinzu kommt, dass die Gesamtkosten des Festivals derzeit etwa das Doppelte | |
betragen – und die Ticketeinnahmen bei 70.000 bis 90.000 Euro liegen. Man | |
kann sich vorstellen, was es heißt, allein die vielen Flüge für die Autoren | |
zu bezahlen, die wirklich aus aller Welt anreisen. In diesem Jahr sind es | |
297 Autoren aus 58 Ländern, die 285 Veranstaltungen bestreiten. 26.000 | |
Besucher allein im Jahr 2016. | |
## Indien, China, Ghana | |
Wer sich das Programm des Internationalen Literaturfestivals anschaut, der | |
mag im ersten Moment überfordert sein. Ein zweiter Blick lohnt sich aber, | |
denn tatsächlich ist es Ulrich Schreiber und seinem Team auch in diesem | |
Jahr gelungen, ungefähr alle Autoren von allen Kontinenten | |
herbeizutrommeln, die in diesem Jahr interessante und relevante Bücher | |
geschrieben haben. | |
Da ist die indische Autorin, Aktivistin und Globalisierungskritikerin | |
Arundhati Roy, die zehn Jahre nach ihrem preisgekrönten ersten Roman „Der | |
Gott der kleinen Dinge“ den zweiten vorlegt. „Das Ministerium des äußerst… | |
Glücks“ ist ein betörendes Buch über die Versprengten, Außenseiter und | |
Glückssucher im indischen Kastenwesen und ein Buch über den Konflikt um | |
Kaschmir. Da ist Madeleine Thien, die Tochter malaiisch-chinesischer | |
Einwanderer in Kanada, die sich in ihrem neuen Buch, „Sag nicht, wir hätten | |
gar nichts“, aus einer sehr interessanten Perspektive dem Massaker auf dem | |
Platz des Himmlischen Friedens im Jahr 1989 in Peking nähert. | |
Und da ist „Heimkehren“ von der ghanaisch-amerikanischen Autorin Yaa Gyasi | |
neben „Underground Railroad“ von Colson Whitehead eines der wichtigsten | |
Bücher aus Amerika in diesem Herbst. Es setzt sich mit dem ideologischen | |
Fundament von weißem Herrenmenschendenken auseinander – mit der Geschichte | |
der Sklaverei. | |
## Die Chancen der Freiheit | |
Es gibt aber auch wie in jedem Jahr auf dem Internationalen | |
Literaturfestival Veranstaltungen für Menschen, die es nicht so haben mit | |
den sogenannten Wasserglaslesungen. Hier sei vor allem der Kongress ab | |
kommenden Freitag erwähnt, auf dem 120 Gäste aus allen Disziplinen in 30 | |
Gesprächsrunden die gegenwärtigen Herausforderungen und Chancen von | |
Demokratie und Freiheit reflektieren. | |
Eine echte Mammutaufgabe, purer, großartiger Wahnsinn ist es, den Ulrich | |
Schreiber da aus lauter Liebe zur Literatur in den letzten 16 Jahren | |
gestemmt hat. Und es wäre ein Jammer, wenn ihm nun doch die Luft ausgehen | |
würde. Er hätte mehr Unterstützung verdient. | |
5 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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