# taz.de -- Debütroman „Ma“ von Aya Cissoko: Das Leben als Geschenk betrac… | |
> Die Pariser Schriftstellerin Aya Cissoko widmet ihr zweites Buch ihrer | |
> aus Mali stammenden Mutter: „Sie hat gelitten, ohne zu verbittern.“ | |
Bild: Begreift ihre Geschichte mittlerweile als einen Schatz: Aya Cissoko vor i… | |
Unmittelbar südlich des eher tristen Pariser Bahnhofs Montparnasse zeigt | |
sich die französische Hauptstadt überraschend plötzlich von ihrer schönsten | |
Seite. Einladende Restaurants, kleine Cafés und bunte Lebensmittelgeschäfte | |
säumen dicht gedrängt die schmalen Straßen. Mitten im sympathischen und | |
lebendigen Quartier de Plaisance lebt Aya Cissoko in einem einfachen | |
Hinterhaus. Hat der Besucher das vorderseitige Hauptgebäude durchquert, | |
öffnet sich der Raum zunächst zu einem üppig begrünten Hof – eine Oase in | |
der geschäftigen Stadt. | |
Alles wirkt hell und freundlich. Maler hatten hier früher einmal ihre | |
Ateliers. Geblieben sind die großen Fenster der Künstlerhäuser. Wo einmal | |
eine Staffelei gestanden haben mag, hat Aya Cissoko heute ihren | |
Schreibtisch. Doch die 1978 in Paris als Tochter afrikanischer Einwanderer | |
geborene Schriftstellerin kennt auch ganz andere Gegenden der Metropole. | |
„Nachdem mein Vater starb, bekamen wir eine neue Wohnung in einem der | |
schlimmsten Viertel der Stadt zugewiesen, einer Art Ghetto, am westlichen | |
Rand des 20. Arrondissements. Es war eine brutale Erfahrung. Erstmals wurde | |
ich darauf gestoßen, dass wir arm sind“, sagt Aya Cissoko. „Aber meine | |
Mutter hat nicht aufgegeben, sie ließ sich nicht hinabziehen. Sie erzog uns | |
dazu, hart zu arbeiten, unsere Ziele im Auge zu behalten. Sie war nie | |
wütend auf dieses Land, sondern lehrte uns, das Leben als ein Geschenk zu | |
betrachten.“ | |
Dabei hätte die Frau aus Mali, die ihrem Mann Anfang der 1970er Jahre in | |
die Fremde gefolgt war, allen Grund dazu gehabt, wütend zu sein. Bei einem | |
vermutlich von Rechtsradikalen verübten Brandanschlag verliert sie den | |
Ehemann und eines ihrer Kinder. Aya Cissoko ist sieben Jahre alt, als die | |
Wohnung der Familie plötzlich in Flammen steht. In ihrer mit der | |
Jugendbuchautorin Marie Desplechin verfassten Autobiografie „Danbé“ | |
(„Würde“) erzählte sie 2011 davon. In ihrem abermals entlang eigener | |
Erfahrungen geschriebenen Debütroman „Ma“, mit dem sie ihrer Mutter ein | |
Denkmal setzt, berichtet sie nun nur knapp von den traumatischen | |
Ereignissen. | |
Das Kind begreift kaum, was geschieht. Während Vater und Schwester in den | |
Flammen verschwinden, steht die Mutter schützend vor dem Mädchen, schirmt | |
es vor der Hitze ab, bis schließlich ein Feuerwehrmann durch das | |
zerborstene Fenster hindurch das Kind über eine Leiter in Sicherheit | |
bringt. So hat es Aya Cissoko dokumentarisch nüchtern notiert. Sie wird | |
diesen Tag im Herbst 1986 nie vergessen. „Es war der Anfang eines anderen | |
Lebens, und plötzlich wurde meine Mutter zum Familienoberhaupt“, sagt sie. | |
Doch das ist nicht die einzige Veränderung. Die Angst hielt damals Einzug | |
in das Leben des jungen Mädchens: „Noch Jahre später war ich stets in | |
Sorge, wenn ich meine Wohnung verließ. Ich musste mich immer vergewissern, | |
dass alles in Ordnung ist. Ganz allmählich wurde es besser. Es brauchte | |
einfach Zeit.“ | |
Zeit ist etwas, was die Familie nach dem Tod des Ernährers nicht hat. Von | |
den afrikanischen Verwandten wird Aya Cissokos Mutter bedrängt, mit den | |
Kindern nach Mali zurückzukehren. Eine Frau könne nicht in der Fremde für | |
ihre Familie sorgen. | |
Das sah die stolze Witwe jedoch ganz anders und lehnte ab. Trotz all der | |
Probleme. Ihre Tochter erinnert sich: „Meine Mutter hatte keinerlei | |
Erfahrung damit, wie sie die Familie durchbringen sollte. Zuvor musste sie | |
sich nur um den Haushalt kümmern. Jetzt ging es darum, auch Geld zu | |
verdienen. Sie fand eine Anstellung in einem Krankenhaus, so wurde sie | |
unabhängig. Sie hat mir diesen Geschmack der Unabhängigkeit vermittelt. Und | |
sie lebte anderen Frauen vor, dass es Alternativen zur üblichen | |
Rollenverteilung in afrikanischen Familien gibt.“ | |
Aya Cissokos in einfachen Worten erzählter Roman, der vor allem durch die | |
Wucht der Geschichte besticht, ist ein nachträgliches Geschenk an ihre 2014 | |
verstorbene Mutter. Die Frau, die zeitlebens Analphabetin geblieben ist und | |
ihre Tochter gern derb in ihrer afrikanischen Muttersprache Bambara | |
zurechtgewiesen hat – „Halt die Klappe – Arschloch, rotes!“ –, ließ … | |
nie unterkriegen. „Ma ist meine Heldin geworden“, schreibt Aya Cissoko. | |
„Sie hat gelitten, ohne zu verbittern.“ | |
Das gilt auch für Aya Cissoko selbst. Als junges Mädchen sucht sie | |
verzweifelt ihren Platz. Sie rebelliert gegen einengende afrikanische | |
Traditionen ebenso wie gegen eine rigide französische Assimilationspolitik. | |
In der Schule wird dem begabten, aber aufmüpfigen Mädchen „inakzeptables | |
Benehmen“ attestiert. Doch da hat sie längst ihren Weg gefunden. Schon als | |
Teenager steigt sie in den Ring. „Boxen war eine Möglichkeit, mich zu | |
behaupten, stärker zu werden. Es wurde zu einem Weg, mein Leben, meinen | |
Körper zu kontrollieren. Das war unglaublich wichtig“, erinnert sie sich. | |
Das Boxen ist auch ein Ventil für ihre Wut. Ein Vergnügen ist es hingegen | |
nicht. „Ich ersetze nur einen starken Schmerz durch einen anderen, den ich | |
zu beherrschen gelernt habe. Eine Verlagerung, nichts weiter“, schreibt sie | |
in ihrem Roman. Aya Cissoko ist eine exzellente Kämpferin – behänder, | |
stärker, aggressiver als ihre Gegnerinnen. Zweimal gewinnt sie die | |
Weltmeisterschaften im Kickboxen, 2006 holt sie sich auch den | |
Weltmeistertitel im Amateurboxen. | |
Dann, bei einem Grand Slam, endet ihre sportliche Karriere jäh. Ein Schlag | |
an den Kopf, Halswirbelbruch. Die Fraktur wird nachlässig behandelt, bei | |
der Operation das Rückenmark verletzt. Als Aya Cissoko aus der Narkose | |
aufwacht, ist sie halbseitig gelähmt. Doch wenn sie eines gelernt hat, dann | |
dies: nie aufgeben. Sie kommt wieder auf die Beine, legt die Boxhandschuhe | |
zur Seite, studiert Politikwissenschaften an einer Pariser Elitehochschule. | |
## Keine Geschlagene | |
Eine Narbe am Hals erinnert noch an die schwere Verletzung. Wie eine | |
Verliererin, eine Geschlagene wirkt die junge, grazile Frau jedoch nicht. | |
Ganz im Gegenteil, sie strahlt eine selbstbewusste Gelassenheit aus. „Als | |
ich jung war, war das Leben manchmal sehr schwierig“, sagt sie. | |
„Mittlerweile begreife ich meine Geschichte als einen Schatz. Manche Leute | |
bedauern mich, weil ich so viel Tragik erfahren habe. Aber ich empfinde das | |
nicht so – und das habe ich vor allem meiner Erziehung zu verdanken. All | |
das, was mir widerfahren ist, hat mich stärker gemacht. Ich sage oft zu | |
Jüngeren: ‚Eure Herkunft kann bedrückend sein, aber vergesst nicht zu | |
leben.‘ Meine Identität speist sich aus einem Zusammenspiel verschiedener | |
Erfahrungen und Traditionen. Ich begreife das als einen großen Reichtum.“ | |
Das Schreiben ist für Aya Cissoko auch der Versuch, diesen Reichtum in | |
Worte zu fassen. Ihr Roman, darauf besteht sie, erzähle jedoch nicht nur | |
ihre eigene Geschichte, nicht allein die ihrer Mutter und Familie. | |
Tatsächlich sei es ein Buch, in dem sich andere Migranten wiederfinden | |
können und sollen – mit ihren Hoffnungen und Enttäuschungen, dem Leid und | |
der Freude. | |
„Ma“ hätte ein trauriges, wütendes Buch werden können. Aber der Sound ist | |
versöhnlich, menschenfreundlich, von einer Autorin, die das | |
Durchsetzungsvermögen und die Beharrlichkeit ihrer Mutter geerbt zu haben | |
scheint. „Hunde gebären keine Katzen“, zitiert Aya Cissoko zuletzt ein | |
französisches Sprichwort und winkt zum Abschied. | |
3 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Holger Heimann | |
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