| # taz.de -- Debatte Ein Jahr Brasilien unter Temer: Absturz ins Bodenlose | |
| > Ende August 2016 wurde Brasiliens linke Staatschefin Dilma Rousseff | |
| > gestürzt. Das Land versinkt in Hunger, Gewalt und globale | |
| > Bedeutungslosigkeit. | |
| Bild: Millionen Konservative gingen gegen sie auf die Straße: Dilma Rousseff | |
| „Wir dürfen keine Fehler machen!“ Eindringlich wiederholte Luiz Inácio Lu… | |
| da Silva diesen Satz mehrmals bei seiner Rede auf dem Weltsozialforum in | |
| Porto Alegre 2003. Kurz zuvor war er nach vier vergeblichen Anläufen zum | |
| Präsidenten Brasiliens gewählt worden. Es herrschte Aufbruchstimmung, | |
| Lateinamerika stand eine Dekade mit Dominanz fortschrittlicher Regierungen | |
| bevor. | |
| 13 Jahre und acht Monate blieb Lulas Arbeiterpartei PT in Brasilien an der | |
| Macht. [1][Vor genau einem Jahr, am 31. August 2016], stimmte der Senat mit | |
| deutlicher Zweidrittelmehrheit für die Absetzung von Dilma Rousseff. Die | |
| einstige Guerillera wurde Ende 2014 wiedergewählt und stolperte über ein | |
| Intrigenspiel rechter Parteien, Unternehmer und Medien. | |
| Millionen Konservative gingen in den gelb-grünen Nationalfarben auf die | |
| sonst links dominierten Straßen und forderten Rousseffs Absetzung – oder | |
| gleich ihre und Lulas Inhaftierung wegen Korruptionsverbrechen. Schließlich | |
| war es auch der, kaum haltbare, Vorwurf von Missbrauch bei der | |
| Haushaltsführung, mit dem die Amtsenthebung der streitbaren Präsidentin | |
| begründet wurde. | |
| ## Rückkehr der Armut | |
| Groß war der Jubel unter Konservativen, Wirtschaftsliberalen und vielen | |
| anderen Unzufriedenen, als der lang ersehnte Machtwechsel vollzogen wurde. | |
| Ein Jahr danach ist es still geworden. Brasilien befindet sich im freien | |
| Fall. Armut und Hunger sind zurückgekehrt, die zu Fußball-WM und Olympia | |
| verbannte Gewalt kehrt in die Favelas zurück und der einstige Global Player | |
| versinkt erneut in internationaler Bedeutungslosigkeit. Übergangspräsident | |
| Michel Temer setzt auf Sparpolitik und einen schlanken Staat, doch die | |
| Wirtschaftskrise bekommt er nicht in den Griff. | |
| Seine Beliebtheit liegt im einstelligen Bereich. Temer und seinen engsten | |
| Vertrauten drohen jetzt ihrerseits Korruptionsprozesse vor dem obersten | |
| Gericht. Niemand weiß, wie viele der damaligen DemonstrantInnen inzwischen | |
| bereuen, ihr Land in dieses Abenteuer getrieben zu haben. Konsens aber ist: | |
| Die Stimmung im Land ist schlecht bis hoffnungslos. | |
| Da ist es wenig hilfreich, wenn die geschasste Arbeiterpartei, ihr | |
| nahestehende Gewerkschaften, viele soziale Bewegungen und ihre Unterstützer | |
| nur die Untaten der neuen Machthaber anprangern. Ohne Selbstkritik und | |
| kreative Debatte der eigenen Fehler wird keine neue fortschrittliche Kraft | |
| entstehen, die den Rollback aufhalten kann. Das ist auch der Grund, warum | |
| die desolate Lage im Land nicht zu breiteren Protesten führt. Zwar gibt es | |
| Widerstand gegen den Rückbau des Sozialstaats oder die Preisgabe des | |
| Naturschutzes im Amazonasgebiet. Doch statt der Linken profitiert vor allem | |
| die radikale Rechte von der Frustration im Land. Der Exmilitär Jair | |
| Bolsonaro, auch „Brasiliens Trump“ genannt, liegt trotz oder gerade wegen | |
| rassistischer und sexistischer Sprüche in Wahlumfragen bereits an zweiter | |
| Stelle. | |
| Ihre Erfolge bei der Armutsbekämpfung und regionalen Integration sind | |
| unumstritten. Ebenso klar liegen aber auch die Fehler der PT-Regierungen | |
| auf der Hand: Wieso ließ sie sich auf die übliche Parteienfinanzierung | |
| durch Korruption ein, statt dieses traditionelle Politiksystem öffentlich | |
| zu brandmarken? Wieso wurde das Risiko, mangels parlamentarischer | |
| Mehrheiten mit rechten oder fragwürdigen evangelikalen Parteien zu | |
| koalieren, unterschätzt? Warum nutzten weder Lula noch Rousseff ihre | |
| Beliebtheit, um das Medienoligopol einiger reicher Familien zu brechen und | |
| die überfällige Regulierung des Medienmarktes voranzutreiben? | |
| Auch das viel gelobte Modell der Umverteilung muss hinterfragt werden. Es | |
| basierte zum einen auf schnellem, aber kaum nachhaltigem Wachstum. Zum | |
| anderen versprach es Gerechtigkeit vor allem beim Konsum. Das Recht auf ein | |
| Auto, auf Flugreisen für die Brasilianer, die vom Luxus jahrhundertelang | |
| ausgeschlossen waren, wurde immer wieder betont. Derweil versäumten die | |
| PT-Regierungen, in Bildung zu investieren oder die Gesundheitsversorgung zu | |
| verbessern. Möglich, dass die PT in eine besondere Art von Wohlstandsfalle | |
| geraten ist: Viele Menschen in Brasilien haben ihren wirtschaftlichen | |
| Aufstieg der Arbeiterpartei zu verdanken. Doch Aufsteiger und Reiche sind | |
| laut Wahlanalysen genau diejenigen, die der PT mehrheitlich den Rücken | |
| kehren. | |
| Schwer zu sagen, ob es sich bei diesen Versäumnissen um die Fehler | |
| handelte, vor denen Lula einst warnte. Zweifelsohne hat die | |
| Regierungspolitik und das Image von Politikerinnen und Politikern der PT | |
| großen Anteil am Absturz der Partei ins Bodenlose. Andererseits kann sich | |
| niemand aus der breiten Anti-Rousseff-Allianz von 2015/16 aus der | |
| Verantwortung stehlen, dass heute in Brasilien der Rechtsstaat in Frage | |
| steht und eine skrupellose Bande von tendenziell kriminellen Politikern das | |
| Land Richtung Abgrund lenkt. | |
| ## Gefälligkeiten für Unternehmer | |
| Die eigentlichen Drahtzieher des Umsturzes wollten vor allem die | |
| Wirtschafts- und Sozialpolitik verändern. Sie diktierten Temer, der zuvor | |
| als Vizepräsident jahrelang die PT-Politik mittrug, die inzwischen | |
| verabschiedete Arbeitsrechtsreform und die angeblich notwendigen Kürzungen | |
| im öffentlichen Sektor. Nach vielen Gefälligkeiten gegenüber in- und | |
| ausländischen Unternehmern stehen jetzt milliardenschwere Privatisierungen | |
| von Staatsbetrieben an. Doch Temer und seine Freunde aus der PMDB, die mit | |
| ihrem Ausstieg aus der Koalition die Absetzung Rousseffs erst möglich | |
| machte, wollten die Machtübernahme aus anderen Gründen: um die | |
| Korruptionsermittlungen zu stoppen, die sie in einem Audiomitschnitt als | |
| „Ausbluten“ bezeichneten. | |
| Da Temer inzwischen [2][wegen Korruption und Bildung einer kriminellen | |
| Vereinigung angeklagt ist], setzt er auf eine hörige Justiz. Einen Sitz im | |
| obersten Gericht sowie die Generalstaatsanwaltschaft hat Temer bereits mit | |
| seinesgleichen besetzt. Ein Teil der liberalen Fraktion unter den neuen | |
| Machthabern, vor allem in der Unternehmerpartei PSDB, will Temer nun | |
| loswerden – aus Angst vor weiterem Imageverlust. Doch der sitzt aufgrund | |
| breiter Unterstützung im durch und durch korrupten Kongress fest im Sattel. | |
| Einige befürchten mittlerweile, dass es 2018 keine Wahl geben wird. | |
| 31 Aug 2017 | |
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| ## AUTOREN | |
| Andreas Behn | |
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