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# taz.de -- Stadtgespräch aus Rio de Janeiro: Gegen Nackte, Schwarze und Schwu…
> Brasiliens evangelikale Rechte wird in ihrem Kulturkampf immer dreister –
> und immer mächtiger. Auch im Parlament.
Bild: Brasiliens Evangelikale – hier bei einer Demo 2014 – gewinnen seit Ja…
Rio de Janeiro taz | „Nein, die Mehrheit der Menschen in Rio de Janeiro
will diese Ausstellung hier nicht haben!“ Bürgermeister Marcelo Crivella
scheint genau zu wissen, was die rund 6 Millionen Bewohner seiner Stadt
denken. Zensur sei es nicht, behauptet Crivella, der vor seiner Wahl ins
Rathaus als Bischof der evangelikalen Universal-Kirche predigte.
Anfang Oktober legte er einen Werbespot auf, in dem er sein Veto gegen eine
Kunstausstellung, die demnächst am Rande des Olympia-Boulevards in
Hafenviertel gezeigt werden sollte, begründete: „Pädophilie, Zoophilie, als
das wollen wir hier nicht haben…“
Die über 270 Bilder und Plastiken von 90 brasilianischen Künstlern werden –
vorerst – in Rio nicht zu sehen sein. 40 von 70 Stadtverordneten
unterschrieben einen Aufruf, in dem die Verwendung öffentlicher Gelder für
einen „Angriff auf Moral, die guten Sitten und Familienwerte“ verurteilt
wird.
Auch der konservative Regent der Metropole São Paulo, João Doria, der
gleich nach Amtsantritt unzählige farbenfrohe Graffiti grau übertünchen
ließ, macht bereits gegen die Ausstellung namens „Queermuseu“ mobil.
## Hassobjekt Candomblé und schwarze Kultur
Der Streit über Kunst und Zensur, jüngstes Kapitel der Moralkehrtwende in
Brasilien, begann in Porto Alegre. Nach Protesten und Drohungen in sozialen
Netzwerken schloss das Kulturzentrum der Bank Santander das Queermuseu nur
wenige Wochen nach Eröffnung der Ausstellung. Stein des Anstoßes war die
Darstellung nackter Körper und die Verwendung religiöser Symbole.
Kunstschaffende und Intellektuelle sprachen von Missachtung der
Meinungsfreiheit und verteidigten die Ausstellung als „Dialog über
Diversität“. „Kaum spüren sie, wie es der LGBT-Gemeinde tagtäglich ergeh…
und schon schließen sie das Queermuseu“, empört sich der Aktivist Gabriel
Galli über den Rückzieher der Bank.
Anderes Hassobjekt der neuen Rechten und Evangelikalen ist die
afrobrasilianische Religion des Candomblé und oft generell die schwarze
Kultur. Das ist täglich im Fernsehen zu sehen, wenn evangelikale Pastoren
in den beliebten TV-Predigten zum Kreuzzug für Jesus aufrufen. Im größten
katholischen Land der Welt machen die Evangelikalen inzwischen rund 30
Prozent der Bevölkerung aus. In verarmten Favelas und in Gefängnissen
bieten sie sich als Ausweg an.
Im Bundesparlament stellen evangelikale Politiker die größte
parteiübergreifende Fraktion. Inzwischen bestimmt die BBB-Koalition –
Biblia, Boi e Bala, zu Deutsch Bibel, Bulle (Großagrarier) und Blei
(Waffenlobby) – die Geschicke des Landes. Es ist der reaktionärste Kongress
seit Ende der Militärdiktatur 1985, der vor gut einem Jahr die
Mitte-links-Präsidentin Dilma Rousseff wegen angeblicher Haushaltstricks
aus dem Amt vertrieb und jetzt dem konservativen Michel Temer die Stange
hält.
## Immer neue konservative Gesetzesinitiativen
Um ein Korruptionsverfahren gegen den neuen Machthaber zu stoppen,
verhinderte eine große Mehrheit der zumeist selbst korruptionsverdächtigten
Abgeordneten die Aufhebung seiner Immunität. Gleiches werden sie
wahrscheinlich Ende Oktober erneut tun, da die Generalstaatsanwaltschaft
Temer inzwischen die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorwirft.
Der jüngste Coup der Volksvertreten richtet sich gegen Kritik im Internet.
Am Freitag letzter Woche verabschiedeten sie ein Gesetz, das Politiker ohne
Einschaltung der Justiz ermächtigt, die Löschung kritischer Kommentare in
sozialen Netzwerken zu verlangen.
Weniger Aufsehen erregt bislang die Verschärfung des ohnehin restriktiven
Abtreibungsrechts, die derzeit in Parlamentskommissionen debattiert wird.
Ziel ist ein grundsätzliches Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen unter
allen Bedingungen.
Bei jeder neuen Moralkeule gibt es einen Aufschrei unter Intellektuellen,
doch breiter Protest regt sich kaum. Die Schriftstellerin Ana Maria Machado
spricht von einem „Rückschritt in die Vergangenheit“. In atemberaubender
Geschwindigkeit würden soziale Rechte gekappt und verfassungsmäßige
Errungenschaften zurückgeschraubt.
Im September erlaubte ein Gericht sogar wieder die seit 1999 verbotene
„cura gay“: Psychologen dürfen Schwulen und Lesben jetzt wieder anbieten,
sie von ihrer sexuellen Orientierung zu heilen.
14 Oct 2017
## AUTOREN
Andreas Behn
## TAGS
Brasilien
Evangelische Kirche
Kolumne Stadtgespräch
Schwerpunkt LGBTQIA
Religion
Marielle Franco
Brasilien
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
Reiseland Brasilien
Brasilien
Brasilien
Sexualisierte Gewalt
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