# taz.de -- Brasiliens Kuhhirten: Heimat des Cowboys | |
> Wenn ein kleines, brasilianisches Städtchen zum Nabel der Country-Welt | |
> wird: zu Besuch bei dem größten Rodeofestival Lateinamerikas. | |
Bild: Das Logo des Festivals in Barreto | |
Peitschenschwingend rasen drei Reiter durch die Arena, mitten auf die Horde | |
schwarzer Rinder zu. In voller Fahrt machen sie kehrt, jeder setzt hinter | |
einem der Tiere an, und dieser Wind, von dem noch die Rede sein wird, fegt | |
zweien von ihnen die Hüte vom Kopf. Unbeeindruckt geht die Jagd weiter. Die | |
Stimme des Stadionsprechers überschlägt sich im Galopp, während die Rinder | |
noch zu entkommen versuchen, schließlich aber in das bereitstehende Gatter | |
gedrängt werden. Ein Blick auf die Anzeigentafel: rund zwanzig Sekunden hat | |
das Ganze gedauert, eine gute Zeit. Die Reiter klatschen sich ab. Dann | |
traben sie durch den rötlichen Sand, ihre Hüte aufzusammeln. | |
Willkommen bei der Festa do Peão, einem zehntägigen Festival, das allem ein | |
Denkmal setzt, was das Landleben im Sertão, jener trockenen Region im | |
Inneren Brasiliens, ausmacht: Reiten, Grillen, sehr viel und sehr kaltes | |
Bier, Countrymusik, Rodeo und natürlich der just beschriebene | |
Working-Penning-Wettstreit, wobei einzelne Tiere aus einer Herde | |
eingefangen werden. | |
Rodeo ist eine traditionelle, aus Brasilien stammende Sportart, die große | |
Verbreitung auf dem nordamerikanischen Kontinent gefunden hat. Das Wort | |
stammt von dem spanischen/portugiesischen rodear ab, was so viel wie | |
„umrunden“ bedeutet. | |
Mit einer Million Besucher ist die Festa do Peão das größte Festival seiner | |
Art in Lateinamerika. Und es ist der einzige Grund, warum Barretos, ein | |
gänzlich unspektakuläres Städtchen von gut 100.000 Einwohnern, weit im | |
heißen Nordwesten des Bundesstaats São Paulo gelegen, im ganzen Land | |
bekannt ist. Zur Feier dieser Tage gibt es hier noch weit mehr SUVs und | |
picapes (Pick-ups) als ohnehin schon. Beim Festivalgelände draußen vor der | |
Stadt wimmelt es geradezu von ihnen. | |
## Der Koloss von Barretos | |
Doch selbst die ausladendsten Landfahrzeuge wirken winzig angesichts der | |
monumentalen Statue, die sich wie ein Schutzpatron hoch über dem Treiben | |
erhebt. Der Koloss von Barretos ist rund zwanzig Meter hoch, ein Cowboy aus | |
grauem Stein mit entschlossenem Blick. Er trägt Zaumzeug und Sattel in den | |
gewaltigen Pranken, Karoweste und natürlich einen breitkrempigen Hut. | |
Hüte wohin man blickt bestimmen allabendlich auch das Bild in der riesigen | |
Arena, in die 45.000 Zuschauer passen. Die Männer, Frauen und Kinder, die | |
sie tragen, sitzen auf den 113 steilen, grau gestrichenen Stufen. Beständig | |
laufen mobile Händler zwischen ihnen hindurch, Mais, Churros und Popcorn | |
auf Tabletts balancierend. Andere tragen Kühlboxen, in denen sich vor allem | |
Bierdosen befinden. | |
Entlang des oberen Rings der Arena ziehen sich zwanzig weitere cervejarias, | |
Stände, an denen Besucher aus Übersee erfahren können, warum Brasilianer | |
europäisches Bier oft zu warm finden. 1.400 Dosen verkauft er in einer | |
Nacht, sagt ein Händler. Und andere Getränke? „Viel weniger.“ | |
Keine Frage, die Festa do Peãoist laut. Ihre Markenzeichen sind Reit- und | |
Rodeowettkämpfe, von tiefergelegtem Hardrock, Kirmesbeats und einem | |
aufgekratzten Moderator begleitet, dazu mehrere Großbühnen, auf denen die | |
Stars der immer populäreren sertaneja, der hiesigen Countrymusik, | |
auftreten. Auf dem Parkplatz dahinter sieht man die Nightliner und | |
Equipmenttrucks beliebter Schnulzenbarden wie Thaeme & Thiago oder | |
Marquinho Guerra. Für pompöse Shows solcher Dimensionen ist das Festival | |
längst berühmt. | |
Doch das ist nicht alles. Wenn die Dämmerung anbricht, erklingen aus einem | |
lauschigen Pavillon nahe der Arena viel leisere Töne. Gewidmet ist er den | |
raízes sertanejas, den Wurzeln der Musik der Farmarbeiter. Das Publikum | |
sitzt auf Parkbänken unter Bäumen und auf der kleinen Bühne sieht man den | |
Poeten Jota Carvalho, der ein Gedicht über das Leben auf dem Land vorträgt, | |
oder den Musiker Jamair Violeira, einen Lokalmatador aus Barretos von | |
Mitte sechzig, der schon um die dreißigmal auf dem Festival auftrat. | |
„Eine Umarmung“, begrüßt er die Zuhörer, bevor er sentimentale Lieder ü… | |
die Eltern anstimmt, seinen Bruder und eine Frau namens „Blume der Nacht“. | |
Das Publikum singt mit, teils mit verklärtem Blick. Keine Frage, hier | |
liegen die Wurzeln der Festa. | |
Nicht nur die älteren Besucher spricht das an. Ein Paar steht vor den | |
Souvenirläden beim Eingang, in denen sich Sättel und Zaumzeug, Stiefel und | |
Kuhhörner türmen. Zufrieden beäugt Vanessa Santos ihren Freund Eduardo | |
Medeiros, der einen schwarzen Cowboyhut erstanden hat. Vanessa ist Ende | |
zwanzig und Marketinglehrerin, Eduardo ein Bankangestellter von Mitte | |
dreißig. Sie wohnen in São Paulo. „Ich bin aber im interior geboren“, | |
betont Eduardo, „und mit der Kultur aufgewachsen.“ Fazit: Man bekommt ein | |
Landei in die Megametropole, aber die sertaneja nicht aus dem Banker. | |
## Die Jungen feiern mit | |
Seine Freundin, die schon immer in der Stadt wohnte, hat einen | |
hintergründigen Blick auf die Materie. „Die sertaneja hat sich verändert. | |
Früher fanden das nur Ältere gut. Meine Eltern mochten das. Aber seit | |
zwanzig Jahren sind auch Junge dabei, der Stil hat sich verändert.“ | |
Gemeinsam besuchen Vanessa und Eduardo jedes Jahr einige solcher Festivals. | |
In Barretos sind sie zum ersten Mal. „Es ist am größten und am besten | |
organisiert“, sagt Vanessa. „Und das teuerste“, lacht Eduardo, bevor sie | |
sich in Richtung Arena aufmachen. | |
Wie aber ist die Festa do Peão überhaupt so groß geworden? Was steckt | |
hinter diesem Megaevent im Zeichen von Lasso, Hut und Grill? Niemand kann | |
das besser erklären als Hussein Gemha Júnior, 57, der Präsident des Clubs | |
Os Independentes, des Gründers des Festivals. Zwei Wochen vor Beginn des | |
Festivals sitzt er in seinem Büro auf dem Gelände, wo überall geputzt und | |
letzte Handgriffe erledigt werden. Zweimal zuvor hatte er diese Funktion | |
schon inne. Vor über dreißig Jahren trat er den Independentesbei, familiär | |
vorbelastet, denn drei seiner Onkel gehörten zur Gründergeneration, die | |
1962 die Festaaus der Taufe hoben. | |
Einerseits, sagt der Präsident, sei da die Struktur einer „sehr ernsthaften | |
Vereinigung“. Genau 100 Mitglieder zählen die Independentes, die 1955 an | |
einem Bartisch in Barretos entstanden. Neue können nur nach fünfjährigem | |
Status als Aspirant und dem Tod eines alten Mitglieds eintreten. Vom | |
Junggesellenkriterium für Mitglieder hat man sich inzwischen verabschiedet. | |
Weiterhin aber müssen diese älter als 21 sein und finanziell unabhängig, | |
denn Gewinn will man mit dem Festival nicht machen. „Alles wird in den Park | |
investiert“, so der Präsident. „Unsere festen Funktionäre sind das ganze | |
Jahr über mit der Vorbereitung beschäftigt.“ | |
## Tradition mit Zukunft | |
Was man sieht, nicht nur an dem schieren Ausmaß dieses Parks von 2 | |
Millionen Quadratmetern, wohin die Festa, die zuvor im Zentrum stattfand, | |
in den 1980ern umzog. Auch die gepflegten Straßen fallen ins Auge, in | |
besserem Zustand als so manche im Städtchen, der reichhaltige | |
Blumenschmuck, überall aufgestellte Sitzbänke und klimatisierte | |
Toilettenhäuschen. Hussein Gemha Júnior war in den 1980ern auch an zwei | |
Neuerungen beteiligt, die das Gesicht des Festivals prägten: „Wir | |
eröffneten einen Campingplatz und machten aus einem viertägigen Event eines | |
von zehn Tagen.“ | |
Allem Wachstum zum Trotz bleibt die Festatief verwurzelt in der lokalen | |
Kultur. „Der kalte Wind schlägt mir ins Gesicht und sagt mir, dass es | |
August ist“, dieses Lied singen die Grundschulkinder in Barretos noch | |
heute, auf den Monat verweisend, in dem der Rodeo stattfindet. Was amüsant | |
anmutet, denn an den meisten Tagen des Jahres liegt über dem Städtchen mit | |
seinen bunten Häusern und Bananenstauden eine Hitze, die sich am besten im | |
Schatten der Jambo- Bäume am Straßenrand aushalten lässt. Doch es gibt ihn | |
tatsächlich, den kalten Augustwind, wenn die Temperaturen auf empfindliche | |
15 Grad sinken können. Das populäre Lied freilich hält dagegen: „Die | |
Umarmung von Barretos macht aus dem Winter einen Sommer.“ | |
Und so pilgert alles, was kann, ab dem Nachmittag hinaus zum Park. | |
Samstagabends gleicht der Eingang einem Bienenkorb: mit Reise- und | |
Linienbussen, Privatautos und Taxis kommen die Besucher an, manche auch zu | |
Rad, zu Pferd oder laufend. Einem Ritual gleich steigen die meisten die | |
paar Stufen auf den begrasten Hügel, um sich vor dem Festivallogo | |
fotografieren zu lassen. Dann geht es hinein in den Trubel, wo die | |
Restaurants schon Plastikstühle und -tische bereitstehen haben und es | |
überall nach Grill riecht. Fünfhundert Essen verkauft sie an einem | |
Wochenendabend, sagt die Verkäuferin an einem Imbissstand, einem von | |
vierzig. | |
Wenn der Hunger gestillt ist, beginnt in der Arena die richtige Show: das | |
Licht geht aus, bis auf ein paar Scheinwerfer. Auf dem Sandboden werden mit | |
Spiritus drei Linien markiert und kurz darauf in Brand gesetzt. Dann | |
schwenken die Scheinwerfer auf dreißig Männer mit Hüten, die jetzt die | |
Arena betreten. Ihre Silhouetten erinnern an Galgenvögel aus einem Western: | |
die Rodeoreiter des Abends. In zwei Reihen stellen sie sich entlang der | |
Linien auf. Der Moderator sprich ein Gebet und beendet es mit: „Von nun an | |
sind wir alle zusammen in der Hand Gottes.“ Es folgt die Hymne im | |
Countrystil. Die Reiter nehmen Haltung an und die Hüte ab. | |
Ein Tritt in die Seite befördert den Stier aus der engen Box mit ihren | |
weißen Gittern. Er springt in die Arena, bäumt sich auf, und der Reiter auf | |
seinem Rücken schnellt in stakkatoartigen Bewegungen nach oben und unten, | |
während der Stier in Rage die Hinterbeine in die Luft wirft. Jeder Reiter, | |
der sich länger als ein paar Sekunden halten kann, wird frenetisch | |
bejubelt, bevor er schließlich im roten Sand landet. Ab und an ist ein | |
Stier besonders renitent und erkundet danach noch ein wenig die Umgebung. | |
Was das Signal zur Verfolgung für drei lassoschwingende Reiter ist, die ihn | |
mit einem gekonnten Wurf einfangen und noch ein paar Ehrenrunden drehen. | |
Die Nacht in Barretos wird lang. Selbst als Toreros und Stiere die Arena | |
längst verlassen haben und auf den Bühnen die Lichter ausgegangen sind, | |
wird entlang der Straße, die zurück ins Zentrum führt, munter | |
weitergefeiert. Mehr als ein picape mit Soundsystem und ein paar Drinks | |
braucht es dafür nicht. Der frische Augustwind trägt die Musikfetzen in die | |
letzten Winkel der kleinen Cowboystadt. Und über allem wacht, draußen in | |
der Pampa, der Koloss von Barretos. | |
4 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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