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# taz.de -- Ermordete Politikerin in Brasilien: Gedenken an Marielle Franco
> Der Mord an der afrobrasilianischen Abgeordneten Marielle Franco treibt
> die Menschen auf die Straße. Die Ermittlungen laufen bislang ins Leere.
Bild: Ein Wandbild mit dem Konterfei von Marielle Franco in Sao Paulo
Rio de Janeiro taz | „Wer tötete Marielle?“ Die Frage steht auf
Pappschildern bei Kundgebungen und Mahnwachen. Graffities in der Stadt
fordern Aufklärung und kritisieren die Polizei. Viele im brasilianischen
Rio de Janeiro tragen T-Shirts, die an die streitbare afrobrasilianische
Stadtverordnete erinnern. Über zwei Wochen sind seit dem Mordanschlag
vergangen. Die Ermittler hüllen sich in Schweigen über die möglichen Täter
und Hintermänner des Verbrechens.
Die Stimmung schwankt zwischen Trauer und Wut. Mariele Franco war eine
Aktivistin, die sich für die Bewohner der Armenviertel und die Schwarzen
einsetzte – diejenigen, die seit jeher am meisten unter den brutalen
Übergriffen der Sicherheitskräfte leiden.
Erst kurz vor ihrem Tod klagte sie per Twitter Polizisten wegen
willkürlicher Todesschüsse in der Favela Acarí an. Am 14. März wurde ihr
Wagen auf dem Weg nach Hause von Unbekannten verfolgt und unweit des
Stadtzentrums gestellt. Marielle und ihr Fahrer starben in einem
Kugelhagel.
Diese Hinrichtung hat im ohnehin Gewalt geplagten Rio de Janeiro eine neue
Qualität. Viele erinnern sich an die gezielten Morde zu Zeiten der
Militärdiktatur (1964-1985). Es sei kein Zufall, dass der erste Anschlag
dieser Art eine lesbische Afrobrasilianerin aus einer Favela getötet habe,
sagen Mitstreiter_innen der linken Partei PSOL, für die Marielle im
Stadtparlament saß.
## Weltweite Proteste
In ganz Brasilien und auch in anderen Städten weltweit löste der Mord
Proteste und Demonstrationen aus. Marielles Lebensgefährtin und ihre
Schwester stehen jetzt an der Spitze einer Kampagne, die von Polizei und
Politik eine schnelle Aufklärung der Tat und Konsequenzen in Fragen der
öffentlichen Sicherheit fordert. Auch die UN mahnten mehrfach an, dass ein
solches Verbrechen einer ernsthaften Antwort des Staates bedarf.
Doch längst nicht alle sind entsetzt. Hämische Schadensfreude kursiert in
sozialen Netzwerken, rassistische Hetze und jede Menge Fakenews. Marielle
sei mit einem bekannten Kriminellen liiert gewesen und nur durch die
Unterstützung von Drogengangs gewählt worden, verkündeten auch eine
Richterin und ein Abgeordneter. Facebook wurde Mitte dieser Woche
gerichtlich angewiesen, binnen 24 Stunden solche Fakenews zu löschen, der
Richterin droht ein Disziplinarverfahren.
Marielle war auch eine scharfe Kritikerin des Militäreinsatzes in Rio de
Janeiro, den Präsident Michel Temer Mitte Februar verfügt hatte. Tausende
Soldaten patrouillieren seitdem auf den Straßen der Touristenmetropole, um
der ausufernden Kriminalität und den ständigen Schießereien in den Favelas
der Stadt Einhalt zu gebieten.
Bisher ohne Erfolg, im Gegenteil: Die gefühlte Unsicherheit nimmt zu,
während die Polizeieinsätze immer brutaler werden. Allein in der
Rocinha-Favela töteten Uniformierte am Samstag vergangener Woche acht
Menschen – angeblich alles Kriminelle, geschossen wurde in Notwehr.
## Die Devise lautet Konfrontation
Die Ansätze einer Deeskalationsstrategie vor der Fußball-WM und Olympia
sind vergessen. Jetzt lautet die Devise wieder Konfrontation. Über Tausend
Menschen erschoss die Polizei im vergangenen Jahr in Rio, Tendenz deutlich
steigend.
Der Stadtregent, der beurlaubte evangelikale Bischof Marcelo Crivella,
schaut dem Chaos in seiner Stadt eher unbeteiligt zu. Als zum berühmten
Karneval vor allem Überfallserien Schlagzeilen machten, war er außer Landes
– zu Besuch unter anderem in Darmstadt.
Eine gute Gelegenheit für Präsident Temer, sich für die Wahlen im Oktober
in Position zu bringen und als Garant für Sicherheit und Ordnung zu
präsentieren.
Doch die Rechnung ging nicht auf. Die von den Medien aufgebauschte
Gewaltwelle hat die Stadt nach wie vor fest im Griff.
## Schwindender Rechtsstaat
Und der Tod von Marielle Franco lässt befürchten, dass noch Schlimmeres
bevorsteht. Es fühlt sich an wie ein Schwinden des Rechtsstaats – ein
‚anything goes‘ derjenigen, die wie in früheren Zeiten mit Gewalt ihre
Interessen durchsetzen.
Bisher gibt es nur Spekulationen über die Täterschaft. Zumeist werden
rechte Polizeikreise genannt, oder die Milizen, die aus ehemaligen
Sicherheitsbeamten bestehen und wie eine Mafia ganze Stadtviertel in den
Vororten kontrollieren, Schutzgelder erpressen und unliebsame Kritiker
ausschalten.
Die Grenze zwischen organisierter Kriminalität und Sicherheitskräften ist
in Rio de Janeiro schon lange fließend. Marielle war eine derjenigen, die
keinen Zweifel daran hatte, dass viele Polizeieinheiten nicht Teil der
Lösung, sondern das Zentrum des Problems seien.
31 Mar 2018
## AUTOREN
Andreas Behn
## TAGS
Marielle Franco
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Michel Temer
Kolumne Stadtgespräch
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