# taz.de -- Prozess gegen „Cumhuriyet“-Journalisten: „Niemand von uns ist… | |
> Sieben der Angeklagten müssen nicht im Gefängnis auf das Urteil warten. | |
> Doch was ist mit den anderen? – fragt unser Autor, selbst | |
> Ex-“Cumhuriyet“-Mitarbeiter. | |
Bild: Musa Kart ist vorerst nicht mehr in Haft. Viele andere sind es noch | |
Die Entscheidung der Richter, [1][sieben Mitarbeiter der Cumhuriyet aus dem | |
Gefängnis zu entlassen], die anderen vier aber nicht, hat nichts mit Recht | |
zu tun. Alles ist abgekartet in diesem Prozess gegen den Journalismus. Es | |
ist beinahe so, als wäre Gott selbst zur Erde hinabgestiegen und hätte | |
gesagt: „Mein Sohn, der da und die anderen drei bedeuten Ärger. Den Rest | |
aber lass frei, denn nicht einmal ich kann den Grund für ihre Haft | |
erklären.“ | |
Sieben von elf. Statistisch klingt das gut, nur reden wir hier nicht von | |
Statistik. Neun Monate ihres Lebens waren sie ihrer Freiheit beraubt, nur | |
um sich dann gegen eine Anklage verteidigen zu müssen, die | |
Zeitungsnachrichten als Beweise präsentierte – ein politischer Prozess, | |
kostümiert mit Terrorvorwürfen. | |
Immerhin sieben sind freigelassen. Jeder wäre schon für eine Handvoll | |
Wasser dankbar, auch wenn sie so gar nicht hilft, das Feuer zu löschen, das | |
da wütet. Ein Feuer, das mein Land verbrennt und in Asche zurücklässt. Ein | |
Stückchen guter Nachrichten, bis morgen die Nächsten verhaftet werden. | |
Sieben Kollegen wurden am Freitagabend aus dem Gefängnis entlassen. Ihre | |
Gesichter im Internetstream, wie sie ihre Lieben vor dem Silivri-Gefängnis | |
umarmten. Irritiert sahen sie aus, aber stolz – sind sie doch durch die | |
Mühlräder dessen gegangen, was von der türkischen Justiz übrig ist. Bärte | |
sind ihnen gewachsen, sie haben abgenommen. Ich fragte mich, ob wir jemals | |
wieder beisammen sitzen und Rakı trinken würden. | |
Frei sind sie jetzt, doch in ihren Gesichtern ist etwas anderes zu lesen. | |
Niemand von uns ist frei. Als Nation sind wir eingesperrt. Eingesperrt sind | |
die, die ein Gewissen haben. Eingesperrt von der Angst jener, die so eifrig | |
jede Stimme unterdrücken, die nicht ihre eigene ist. Sie tun das gegen die | |
Kraft der Natur, gegen den Lauf der Zeit, sich zehntausenden Jahren | |
menschlichen Fortschritts widersetzend. | |
Sieben freigelassen, doch was ist mit den anderen? Die zahllosen Seelen, | |
die nicht in einem Rausch davon schreiben können, die Zurückgelassenen. Wie | |
der, der gar nicht für Cumhuriyet arbeitet und aus irgendeinem lächerlichen | |
Grund Teil des Prozesses wurde. Was ist mit den prokurdischen Abgeordneten, | |
was mit den anderen angeblichen Terroristenfreunden und Putschisten, was | |
ist mit den Geiseln: Deniz Yücel, Meşale Tolu, Peter Steudtner… Wie lange | |
ich feiern könnte. | |
Zufrieden damit zu sein, dass es zumindest einen Rest Gerechtigkeit in | |
diesem Land gibt. Um sich plötzlich zu erinnern, dass dieser Akt der Gnade | |
kein Sieg ist. In einem Land, das nicht mit Bürgerrechten, sondern im | |
Ausnahmezustand regiert wird. Wo Angeklagte keine Menschen, sondern Objekte | |
der Propaganda sind. Ein Rest Gerechtigkeit: Als ob Ankläger und Richter | |
sich in einem lichten Moment entschieden hätten, das Joch des Regimes und | |
seines ganzen Irrsinns abzulegen. Als ob es überhaupt je eine echte | |
Grundlage gegeben hätte, jene zu anzuklagen, die die Wahrheit im Munde | |
führen. | |
Einsperren und freilassen. Was ist mit Murat Sabucu and Akın Atalay, die | |
den jungen Kollegen bei Cumhuriyet Halt und Unterstützung gaben und sich im | |
Angesicht all der Drohungen noch tiefer in ihre Arbeit gruben? Was ist mit | |
Ahmet Şık, der zurück in seine Zelle in Silivri geschickt wurde? Was er zu | |
seiner Verteidigung vor Gericht vortrug, wird in nicht allzu ferner Zukunft | |
Beweismaterial im Prozess gegen das AKP-Regime sein. Was ist mit ihnen? Ich | |
sehe sie vor meinem inneren Auge: Frei, wie sie durch die Räume des | |
verblassenden Cumhuriyet-Gebäudes gehen, wo zu arbeiten ich einst die Ehre | |
hatte. | |
Frag einen frei denkenden Türken, der dir gegenübersitzen mag, wie es ihm | |
geht. Das ständige Gefühl an der Klippe zu stehen, als würden wir warten, | |
darüber gestoßen zu werden. Doch fallen werden wir nicht. Der Kampf geht | |
weiter, auch ohne die anderen. Wie soll man ruhen um vier in der Nacht, | |
wissend, dass der nahe Morgen nur die neueste Tragödie bringt? | |
Gewiss, der Fisch stinkt vom Kopf her. Nicht zu vergessen sind die | |
Tausenden Richter und Staatsanwälte, die selber in Angst leben, unter Druck | |
und hilflos. Wie all die anderen, die als untätige Zeugen des Wahnsinns | |
dabeistehen. Jeden Tag schmieren sie die zerstörerische Maschine. Eine | |
endlose Kette gehorsamer, hoffnungsloser, von Grund auf schuldbeladener | |
Jammerlappen, die Menschen Zeit aus ihren Leben stehlen. Verfolgen wird sie | |
das, was sie hervorzubringen halfen, wenn es schon lang vergangen ist. Denn | |
die Geschichte, die bewegt sich nur in eine Richtung. | |
29 Jul 2017 | |
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## AUTOREN | |
Ali Celikkan | |
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