# taz.de -- Debatte Politik im Bundestag: Die Mini-Opposition | |
> Linkspartei und Grünen fällt es schwer, sich als Alternative zur | |
> Regierung zu beweisen. Schuld ist nicht allein die Große Koalition. | |
Bild: Sitzung des Bundestages am 30. Juni. Die Ehe für alle wird beschlossen | |
Opposition ist das Rückgrat der Demokratie. Ohne eine leistungsfähige | |
Opposition im Parlament, die Kritik äußert, die Regierung kontrolliert und | |
politische Alternativen aufzeigt, ist die parlamentarische Demokratie zum | |
aufrechten Gang nicht fähig. Zu Beginn der 18. Wahlperiode 2013 startete | |
die Opposition unter denkbar schlechten Bedingungen. Linkspartei und Grüne | |
stellen gemeinsam lediglich 20 Prozent der Abgeordneten im Bundestag. Eine | |
solche Mini-Opposition hätte kaum Rechte besessen. | |
Doch durch die Änderung der Geschäftsordnung des Bundestags ist die | |
Opposition wieder weitgehend in der Lage, ihre Aufgaben wahrzunehmen: | |
Gemeinsam können beide Fraktionen etwa einen Untersuchungsausschuss | |
einsetzen, eine Sondersitzung des Bundestags einberufen, eine | |
Enquetekommission einrichten oder eine Klage vor dem Gerichtshof der | |
Europäischen Union – nicht jedoch Verfassungsklage in Karlsruhe – führen. | |
Dennoch ist es während der gesamten Wahlperiode den Parteien Die Linke und | |
Bündnis 90/Die Grünen schwergefallen, sich als starke Alternative zur | |
Regierung zu beweisen. | |
Die Ursachen dafür sind vielfältig. Aus Sicht der Oppositionsforschung | |
führen vor allem zwei strukturelle Gründe dazu, die Linkspartei und Grünen | |
die Arbeit erschweren. Erstens raubt Turboregieren der Mini-Opposition den | |
erforderlichen Raum für sachverständige Kritik, nachprüfende Kontrolle und | |
mobilisierende politische Alternativen. | |
In Zeiten von schnell aufeinanderfolgenden Krisen wie Bankenkrise, | |
Eurorettung, Migrations- und Flüchtlingskrise sowie Terroranschlägen | |
unterliegt Regieren einem extrem hohen Problem- und Handlungsdruck. Es | |
handelt sich um Kipppunkte des Regierens, in denen besonders schnell unter | |
mangelhafter Wissensbasis von einem kleinen Kreis politischer Entscheider | |
gravierende Weichenstellungen mit unklaren Folgen, oft aus einem | |
Bauchgefühl heraus getroffen werden, um Katastrophen im letzten Moment | |
abzuwenden. | |
Turboregieren suggeriert Alternativlosigkeit. Es reduziert die | |
Entscheidungsmöglichkeiten vermeintlich auf Zustimmung oder | |
Unregierbarkeit: Sicherheit der Bankeinlangen von Millionen Bürgerinnen | |
und Bürgern oder Bank Run, Finanztransfers für Griechenland oder Ende des | |
Euro, Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge oder humanitäre Katastrophe. | |
## Kaum Zeit für Willensbildung | |
Turboregieren ist aus Sicht des parlamentarischen Regierungssystems ein | |
großes Problem. Der Opposition bleibt angesichts des Entscheidungsdrucks | |
kaum Zeit für die notwendige Willensbildung im Parlament. | |
Zweitens erfährt die parlamentarische Opposition im Bundestag einen | |
politischen Einflussverlust durch die Komplexität der Entscheidungswege im | |
europäisierten Regierungssystem Deutschlands. Fleißige Mitarbeit der | |
Opposition im Bundestag reicht nicht mehr aus. Denn der Bundestag ist nicht | |
alleiniger Gesetzgeber. Regieren und damit notwendigerweise auch Opponieren | |
geschieht vielerorts in einem unübersichtlichen verflochtenen föderalen | |
Mehrebenensystem aus Regierungen und Parlamenten in der Europäischen Union, | |
im Bund, in den Ländern und den Kommunen. | |
Doch nicht nur veränderte strukturelle Probleme erschweren die effektive | |
Opposition. Die Bilanz der Mini-Opposition zeigt, dass hausgemachte Gründe | |
ebenso schwer wiegen. Erstens nutzen Linkspartei und Grüne ihre | |
Handlungsinstrumente im Bundestag zu wenig. Zwar können beide Parteien auf | |
eine Erfolgsbilanz im Bereich Kritik und Kontrolle verweisen. In dieser | |
Wahlperiode wurden bisher etwa 11.500 schriftliche Einzelfragen, ungefähr | |
3.050 mündliche Fragen und circa 3.700 Kleine Anfragen initiiert. Hinzu | |
kommt die vergleichsweise hohe Zahl von fünf parlamentarischen | |
Untersuchungsausschüssen. | |
Doch die Messlatte für eine starke Opposition liegt höher. Denn effektive | |
parlamentarische Opposition bedeutet auch, dass die Bandbreite der | |
Handlungsmöglichkeiten ausgeschöpft wird, um politische Alternativen zur | |
Regierungspolitik zu entwickeln. Doch die Zahl der eingebrachten | |
Gesetzesinitiativen im Bundestag sank. | |
Große Anfragen zu umfangreicheren Themenbereichen sind deutlich rückläufig. | |
Hinzu kommt, dass in den vergangenen vier Jahren vom wichtigen | |
Oppositionsrecht auf Einsetzung einer Enquetekommission in keinem einzigen | |
Fall Gebrauch gemacht wurde. Schwer verständlich, denn Enquetekommissionen | |
erschließen Handlungsspielräume für den Umgang mit bedeutsamen | |
Zukunftsproblemen. Warum initiierten Linkspartei und Grüne angesichts der | |
enormen Herausforderungen der Flüchtlingskrise für die kommenden Jahrzehnte | |
keine Enquetekommission „Gestaltung der Integration“? | |
## Macht im Bundesrat ungenutzt | |
Zu den selbst verursachten Problemen zählt zweitens, dass es der | |
Linkspartei und den Grünen kaum gelang, ihre Parteibeschlüsse mithilfe des | |
Bundesrats durchzusetzen. | |
CDU/CSU und SPD verfügen dort nur über 16 von 35 erforderlichen Stimmen für | |
die Mehrheit. Aufgrund der umgekehrten parteipolitischen Mehrheiten in | |
Bundestag und Bundesrat haben Landesregierungen, in denen Grüne | |
beziehungsweise Linkspartei regieren oder mitregieren, hohe Blockademacht. | |
Doch erstaunlicherweise findet die Blockade nicht statt. Der | |
Vermittlungsausschuss tagte so selten wie kaum zuvor. | |
Im künftigen Bundestag darf sich eine Opposition nicht erneut in erster | |
Linie auf fleißige Kritik und Kontrolle der Regierung beschränken. Eine | |
kraftvolle Opposition – gerade in der Auseinandersetzung mit der AfD – muss | |
ein starkes Gewicht auf die Entwicklung politischer Alternativen, im | |
Unterschied zu rechtspopulistischen Scheinlösungen, legen. Dafür muss sie | |
dem Turboregieren den souveränen Umgang mit der Zeit entgegensetzen. Denn | |
parlamentarische Opposition hat ihre eigene Taktung, die es ermöglicht, | |
längerfristige Politiklösungen zu formulieren und programmatische Debatten | |
als Kontrapunkt zum Turboregieren zu führen. | |
Zudem kann ein besseres Oppositionsmanagement helfen, Strategien und | |
Instrumente zu entwickeln, um der Stimme der Opposition in den Parlamenten | |
wieder mehr politischen Einfluss zu verschaffen. | |
9 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Stephan Bröchler | |
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