| # taz.de -- Neustart nach Naturkatastrophe: L’Aquilas Auferstehung | |
| > Am 6. April 2009 zerstörte ein Erdbeben die Abruzzen-Hauptstadt. Der | |
| > Wiederaufbau schleppte sich, aber nun keimt Optimismus. Ein Ortsbesuch. | |
| Bild: Alter neuer Glanz: Die Basilica Santa Maria di Collemaggion soll Ende 201… | |
| L'Aquila taz | In den Außenbezirken die modernen Wohnblöcke, zum Zentrum | |
| hin dann die Kirchtürme und Kuppeln, die rotbraunen Terrakotta-Schindeln | |
| auf den Dächern der Altstadt: Eigentlich ist das das ganz normale Bild | |
| einer italienischen Stadt, das man schon von der Autobahn aus sieht. Völlig | |
| normal – wären da nicht die Kräne, übers ganze Stadtgebiet verteilt. Ihre | |
| stählernen Gerippe und ausladenden Arme bilden die wahre Skyline von | |
| L’Aquila, verraten, dass in der Senke eine gigantische Baustelle liegt. | |
| Warum all die Kräne da sind, wird am Zugang zur Altstadt klar. Zwei | |
| Bürobauten aus faschistischer Zeit sind die ersten Gebäude des Corso | |
| Vittorio Emanuele, der Bau links präsentiert sich frisch renoviert, seine | |
| Fassade leuchtet in kräftigem Rot, der Bau rechts dagegen ist komplett | |
| eingerüstet und von Planen verdeckt. Und auch der sich anschließende | |
| Palazzo versteckt sich hinter einem Baugerüst. Risse durchziehen das | |
| Mauerwerk, kunstvoll miteinander verschraubte Stahlrohre in den | |
| Fensterhöhlen sorgen dafür, dass hier nichts einstürzt. | |
| „Der Corso Vittorio Emanuele war mal die Flaniermeile, die Hauptachse der | |
| Innenstadt, bis zum Erdbeben vom 6. April 2009“, erklärt Oscar Buonamano | |
| vom Projekt Officina L’Aquila. Grauer Dreitagebart, die grauen Haare | |
| streichholzkurz, schaut Buonamano seine Gesprächspartner aus freundlich | |
| aufblitzenden Augen an. | |
| Officina L’Aquila versammelt regelmäßig die Akteure des Aufbaus – die | |
| Stadt, die Region, die Bauunternehmen, die Universität – zu Diskussionen, | |
| aber Buonamano liegt an anderem noch mehr: den Bürgern, der Öffentlichkeit | |
| zu zeigen, dass L’Aquila keine sterbende Stadt ist. | |
| ## Barbetreiber Marco zweifelt noch | |
| Bürger aber sind zunächst einmal Mangelware auf dem Corso, auf dem sich | |
| eine Baustelle an die andere reiht. Gerüstbauer schlendern vorbei, ein Lkw | |
| mit Schutt manövriert in einer Seitengasse, ein Arbeiter rät, die | |
| Straßenseite zu wechseln, während hinter der Plane am Gebäude immer wieder | |
| Gesteinsbrocken herabplumpsen. | |
| Gleich am nächsten Eck, an der Piazza Regina Margherita, aber stehen, in | |
| ein Schwätzchen vertieft, zwei echte Aquilaner. Carlo, sportlicher | |
| Mittvierziger im grauen Polohemd, erzählt, er gehöre zu den wenigen, die | |
| noch in der Altstadt leben: „Nach dem Beben war hier ja zunächst alles Rote | |
| Zone, keiner konnte hier wohnen. Ich bin zurückgekehrt, aber meinen Eltern, | |
| beide 75 Jahre alt, wäre das Leben hier zu beschwerlich. Überall die | |
| Baufahrzeuge, der Staub, man kann mit dem Auto nicht an die Wohnungen | |
| ranfahren. Sie sind in ihrer provisorischen Unterkunft geblieben, an der | |
| Adriaküste, 100 Kilometer von hier.“ | |
| Ein Neustart für die Stadt? Carlo zuckt mit den Schultern, sagt, das hoffe | |
| er, aber so recht könne er es noch nicht glauben, nur ganz wenige Einwohner | |
| seien bisher in die Altstadt zurückgekehrt. Sein Freund Marco zeigt auf die | |
| „Bar Spritz“ an der Ecke des Platzes. „Das war mal mein Laden“, erklärt | |
| Marco, „am 7. April 2009 war Schluss“. Verrammelt ist das „Spritz“, wie… | |
| ganze Palazzo, in dem es sich befindet. Carlo überlegt, ob er in der | |
| Altstadt wieder ein Lokal aufmacht, hat aber seine Zweifel, ob es | |
| vernünftig liefe. | |
| ## Schwere Fehler zum Start | |
| Oscar Buonamano teilt die Skepsis nicht. Gewiss, seit dem Beben, das 309 | |
| Menschen das Leben kostete und die Altstadt in Trümmer legte, das aber auch | |
| viele der neueren Bauten in den Außenvierteln zum Einsturz brachte oder | |
| schwer beschädigte, sind mehr als acht Jahre vergangen. Mehr als 40.000 der | |
| seinerzeit 70.000 Einwohner der Stadt waren zunächst obdachlos. Heute leben | |
| nur noch 57.000 hier. | |
| Mehr noch, Buonamano meint, dass gerade in den ersten Jahren des | |
| Wiederaufbaus schwere Fehler gemacht, Ressourcen verschleudert wurden. So | |
| träumte der damalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi davon, die | |
| Aquilaner mit 20 „New Towns“ zu segnen, neuen Siedlungen draußen auf der | |
| grünen Wiese. | |
| Buonamano lässt kein gutes Haar an diesen Siedlungen. „Die waren sündhaft | |
| teuer, mit Baukosten von 3.000 Euro pro Quadratmeter“, rechnet er vor, | |
| zugleich aber miserabel ausgeführt. Heute sind viele schon baufällig, | |
| Wasser dringt in die Wohnungen ein, komplette Balkons sind abgebrochen, und | |
| entgegen allen Versprechungen sind die Wohnblocks nicht einmal | |
| erdbebensicher. | |
| „Aber L’Aquila wird wiederauferstehen“, gibt Buonamano sich sicher. Er | |
| zeigt auf die Häuserzeile zur Rechten. Sämtliche Palazzi aus dem | |
| Mittelalter, aus dem Barock sind komplett instandgesetzt, ihre Fassaden | |
| erstrahlen in Pastell, die gotischen Fenster, die Maskenreliefs über den | |
| Türen sind liebevoll restauriert. Officina L’Aquila hat einen Tag der | |
| offenen Baustellen organisiert, damit die Bürger sich von den Fortschritten | |
| ein Bild machen können. | |
| Zum Beispiel im Teatro Comunale. Schwerste Schäden hatte es beim Beben | |
| davongetragen, 2015 begann endlich die Instandsetzung, und vom Theatersaal | |
| bis rauf zur Kuppel sind jetzt überall Teams am Werk, richten die Mauern | |
| her, restaurieren den Wandschmuck in Weiß und Gold, das Gemälde im | |
| Deckengewölbe. „In nicht einmal einem Jahr werden wir hier fertig sein“, | |
| gibt sich Bauleiter Marcello Marchetti sicher. | |
| ## Der Palazzo Jacopo Notar Nanni ist jetzt bebensicher | |
| Buonamano gesteht zu, dass in L’Aquila zunächst viel Zeit vertan wurde. „So | |
| entstand das Bild von der Stadt in Agonie, aber von 2015 an wurden die | |
| Zuständigkeiten in einem zentralen Büro gebündelt, wurde die Mittelvergabe | |
| transparent gestaltet, wurde systematisch die Restaurierung ganzer | |
| Straßenzüge angegangen“, bilanziert er. | |
| Nur zwei Straßen weiter findet sich der Palazzo Jacopo Notar Nanni aus dem | |
| 15. Jahrhundert. Das Erdbeben von 1703 – damals wurde die Stadt schon | |
| einmal verwüstet – hatte er unbeschadet überstanden, doch 2009 wurde er | |
| schwer beschädigt. Noch sind die Arbeiten nicht abgeschlossen, doch von den | |
| Schäden ist nichts mehr zu sehen. | |
| Sieben Millionen Euro wurden hier investiert, sagt Bauleiterin Liliana | |
| Bucchiarone. Die Kassettendecken, die Loggia mit den gotischen Säulen, die | |
| Fresken – alles ist wie früher. Allerdings nicht ganz: Unter den antiken | |
| Mauern verbergen sich stählerne Konstruktionen, sind Ketten und Träger | |
| eingelassen, die dem Palazzo in Zukunft erlauben, auch schweren Beben | |
| standzuhalten. | |
| Schöner denn je, zugleich sicherer denn je – dies ist das | |
| Wiederaufbaukonzept. Es war nicht selbstverständlich. „Nach dem Beben gab | |
| es Überlegungen, vieles einfach abzureißen und dann Architekten mit neuen | |
| Projekten ranzulassen“, entrüstet sich Buonamano. „Gott sei Dank hat die | |
| Stadt das verhindert, hat sie die Marschroute durchgesetzt, dass alles | |
| wieder aufgebaut wird.“ | |
| ## Superschnelles Internet | |
| Der neue, alte Glanz zeichnet sich schon in ganzen Straßenzügen ab. 2020 | |
| sollen die Arbeiten in der gesamten Altstadt abgeschlossen sein – dann soll | |
| L’Aquila unter der alten Fassade zugleich eine der modernsten Städte | |
| Italiens werden. „Smart City“ nennt Buonamano das. Unsichtbar für die | |
| Besucher wird der Stadtkern auch unterirdisch umgekrempelt, werden Tunnel | |
| gezogen, in denen alle Versorgungsleitungen oder Glasfaserkabel verlaufen | |
| werden. L’Aquila wird eine der ersten fünf italienischen Städte sein, in | |
| denen die „5G“-Technik – superschnelles Internet – zum Einsatz kommt. | |
| Modernste Technik hinter mittelalterlichen Fassaden, dazu die Synergien mit | |
| der Universität: Buonamano glaubt, dass L’Aquila beste Chancen hat, | |
| Start-ups anzulocken und so die Innenstadt zu neuem Leben zu erwecken. Noch | |
| stehen viele der restaurierten Gebäude leer, noch gehen abends in den | |
| wenigsten Wohnungen Lichter an. Doch schüchterne Zeichen der Wiederbelebung | |
| sind da. | |
| Marco zum Beispiel, 24, hat vor ein paar Wochen seinen Laden am Corso | |
| Vittorio Emanuele eröffnet. Unter den strahlend weißen Gewölbedecken bietet | |
| er Markenjeans und Shirts zum Verkauf an, und er ist optimistisch. Der Bau | |
| gleich gegenüber ist noch komplett eingerüstet. „Doch in zwei Jahren“, | |
| meint Marco, „wird das hier eine der schönsten Städte ganz Italiens.“ | |
| 7 Aug 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Braun | |
| ## TAGS | |
| Naturkatastrophe | |
| Wiederaufbau | |
| Italien | |
| Silvio Berlusconi | |
| Erdbeben | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Politisches Buch | |
| Tourismus | |
| Erdbeben | |
| Erdbeben | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Buch über Italiens Vulkane und Brüche: Italiens Bauch rumort | |
| In „Eine Stimme aus der Tiefe“ spürt der italienische Autor Paolo Rumiz den | |
| vulkanisch-geologischen und politischen Frakturen seines Landes nach. | |
| Tourismus in den Abruzzen: Verletzt, aber vital | |
| Die italienische Erdbebenregion ist zu schön, um vom Tourismus und von der | |
| Welt verlassen zu werden. Sie ist Wander- und Skigebiet. | |
| Naturkatastrophe in Italien: Weitere Beben sind unausweichlich | |
| Die Zerstörungen belasten den Haushalt des Landes in Milliardenhöhe. | |
| Tausende Menschen sind obdachlos. Und der Winter naht. | |
| Katastrophen in Italien: Land der Beben und der Betrogenen | |
| Immer wieder erschüttern Erdbeben das Land. Nicht immer haben Politik und | |
| Verwaltung den Betroffenen effizient geholfen. | |
| Mangelhafte Erdbebenwarnung in Italien: Seismologen müssen in den Knast | |
| Beim Erdbeben in den Abruzzen kamen über 300 Menschen um. Die zuständigen | |
| Wissenschaftler werden zu langen Haftstrafen verurteilt – und halten sich | |
| für unschuldig. |