| # taz.de -- Der Hausbesuch: Sie stellte ihr Leben auf den Kopf | |
| > Tochter, Mutter, Ehefrau, Muslimin – Emel Zeynelabidin erfüllte diese | |
| > Rollen 30 Jahre lang perfekt. Dann trennte sie sich, legte das Kopftuch | |
| > ab, begann zu suchen. | |
| Bild: „Liebe ist ein total abgefahrenes Phänomen“, sagt Emel Zeynelabidin.… | |
| Emel Zeynelabidin lebt in Marburg, in einem kleinen Haus am Hang. Die | |
| Straßen hier: ein Auf und Ab. In der Stadt ist die Muslima nicht | |
| angekommen. | |
| Draußen: Ruhe, Fachwerk, hessisches Kleinstadtidyll. In den Gassen stockt | |
| die Sommerhitze. Auf der Terrasse, ihrem „kleinen Stückchen Paradies“, | |
| zwitschern Vögel. | |
| Drinnen: Vögel sind auch in jedem Raum. Sie schmücken die Tassen, sitzen | |
| als Figuren über dem Bett. Neben dem Kopfkissen hängt eine kleine | |
| Prinzessin. „Das hat meine Nichte mir gemalt“, sagt Zeynelabidin. | |
| An den Wänden außerdem: aufgeklebte Puzzle mit Herzen und | |
| „Sheepworld“-Motiven („Ohne-dich ist alles doof“). Zeynelabidin puzzelt | |
| gern, weil sie das „Suchen und Finden“ mag. | |
| Als Kind ist Zeynelabidin mit ihren Eltern von Istanbul nach Deutschland | |
| migriert, „überbehütet“ in „kleinen Städtchen“ aufgewachsen, erst bei | |
| Hannover dann in Nordrhein-Westfahlen. An die Heile-Welt-Städtchen wird sie | |
| erinnert, wenn sie aus dem Fenster blickt. | |
| Lenkungen: „Durch die Eheschließung bin ich dann nach Berlin gekommen“, | |
| sagt sie, 1980, nach dem Abitur. Der Umzug in die Großstadt war | |
| unfreiwillig: „Man hat mich nicht gefragt, ob ich nach Berlin ziehen will. | |
| Da ging es darum, Erwartungen zu erfüllen, keinen Widerstand zu zeigen.“ | |
| Ihren Ehemann habe sie nicht „gelernt zu lieben. Die Ehe hatte praktischen | |
| Wert“. Ihr Vater wollte sie als Studentin verheiratet sehen. „Natürlich | |
| habe ich ja gesagt, aber aus Liebe zu meinem Vater.“ | |
| Vaterliebe: Er war Yusuf Zeynel-abidin, ein „bekannter, beliebter Mensch“ �… | |
| Chirurg und Mitbegründer der deutschen Sektion der muslimischen | |
| Milli-Görüş-Bewegung, die in Deutschland bis heute umstritten ist. Vater | |
| und Tochter seien „Herz und Seele“ gewesen. Sein Tod habe ihr Leben | |
| „regelrecht auf den Kopf gestellt“. Sie war damals 26. „Ich war völlig an | |
| meinen Vater gebunden, obwohl ich schon Mutter und Ehefrau war.“ | |
| In Berlin hat Zeynelabidin Anglistik studiert, sechs Kinder bekommen. | |
| Nebenher den Islamischen Frauenverein Cemiyet-i Nisa e. V. geleitet, den | |
| ersten deutschen islamischen Kindergarten mitgegründet. Heute zieht sie | |
| nichts mehr in die Hauptstadt: „Das ist doch alles fertig, was soll ich | |
| dort noch?“ | |
| Ihr jüngster Sohn Yunus, 16, der mit ihr in dem Häuschen wohnt, kommt von | |
| der Schule. Hitzefrei. „Yunus fährt morgen übrigens nach Berlin auf | |
| Klassenfahrt.“ Ob er sich freut? Brav sagt er „ja“. Zeynelabidin sagt, er | |
| sei „in der ersten Pubertät“, sie in „der zweiten“. Yunus huscht wortk… | |
| die Treppe empor zur Playstation, er sei „fertig“, beschwert sich, dass er | |
| Durst hat. Yunus fastet – es ist Ramadan. | |
| Kopfstand: Auf dem Tisch steht Himbeerkuchen, Zeynelabidin fastet nicht. | |
| Seit 2005 nicht mehr, dem Jahr, in dem sie sich von ihrem Mann trennte und | |
| ihr Kopftuch nach dreißig Jahren öffentlich ablegte – ihr Leben und sich | |
| damit „auf den Kopf“ stellte. Der Auslöser für diese „Verwandlung“ wa… | |
| „große Gefühle“. Gefühle, die die „formelhafte“ Welt ihrer Kindheit … | |
| ihrem „Verboten“ und „Erlaubt“ aus den Fugen hoben. | |
| Verstehen wollen: Sie war Ehefrau, Muslimin mit Kopftuch – „und dann | |
| interessierst du dich für einen anderen Mann, das ging nicht. Ich musste | |
| Klarheit schaffen.“ Zeynelabidin sagt: „Ich habe die ganze Zeit | |
| reflektiert: Was ist los mit mir?“ Als die Liebe unerwidert blieb, habe sie | |
| „Höllenqualen“ ausgehalten. „Es war, als wäre mein Vater ein zweites Mal | |
| gestorben.“ | |
| Eine Pippi Langstrumpf: Heute findet sie: „Das Leben bietet eigentlich | |
| genug Reize, Impulse und Einflüsse, um sich seine eigene Welt zu machen.“ | |
| Wie Pippi Langstrumpf: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“ Ob sie | |
| selbst eine Pippi Langstrumpf ist? „Vielleicht ein bisschen.“ | |
| Die Liebe: Für ihre „Liebesbücher“ hat Zeynelabidin inzwischen ein eigenes | |
| Regal. „Die Kunst des Liebens“ von Erich Fromm. Martin Walser, „Ein | |
| liebender Mann“. Der Briefwechsel zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann | |
| steht da. „Liebe ist ein total abgefahrenes Phänomen“, sagt sie. „Ich ha… | |
| das viel zu spät erkannt.“ | |
| Der Preis: Auf die Frage, welchen Preis sie für ihre „Verwandlung“ zahlen | |
| musste, sagt sie: „Ich bin aus dem Nest der Gemeinschaft gefallen, ein | |
| bisschen bin ich noch geschubst worden. Ich bin für meine Entscheidung | |
| abgelehnt worden.“ Das „Traurige“ sei, dass sie „nicht ernst genommen“ | |
| wurde – obwohl jeder wusste, dass sie eigentlich „vernünftig“ war. | |
| Dilemma: Zeynelabidin habe rechtfertigen müssen, „Gläubige“ zu sein. Wenn | |
| eine Gruppe bestimme, „was Islam ist, was ein Muslim ist, was richtig und | |
| was falsch ist“, entstehe ein „Dilemma“. Ihr Wunsch: „vorhandene | |
| Interpretationen in Frage zu stellen und neu aufzustellen.“ Die Muslimin | |
| will Deutungshoheit über ihre eigene Religiosität, Deutungshoheit über ihr | |
| eigenes Leben. | |
| Lebenshunger: Sie ist lernmutig, veränderungswütig. „Das Leben ist doch | |
| eine ständige Verwandlung“, sagt sie. „Das ganze Leben ist ein Prozess, in | |
| dem wir weiterlernen, weiterlernen, weiterlernen. Wir haben doch einen | |
| Geist, der sucht, der Fragen formuliert, der antworten will, der neugierig | |
| ist.“ | |
| Inzwischen Oma: Zeynelabidin ist ständig am „WhatsAppen“. Der einzige | |
| Grund, weshalb sie zu Besuch nach Berlin käme, sei ihre sechsmonatige | |
| Enkeltochter. Auf dem Smartphone empfängt sie Fotos von ihr: „Wir haben | |
| eine Familiengruppe“. | |
| Rastlos: Von ihrem Fenster aus sieht Zeynelabidin das Schloss, altes | |
| Gemäuer und Wald. „Es ist schön“, sagt sie. „Aber der Anblick allein ma… | |
| nicht glücklich.“ Zeynelabidin will weiter, sie ist ständig am Umziehen. | |
| „In Berlin bin ich fünfmal umgezogen“, seit sie 2012 nach Marburg kam | |
| dreimal. Jetzt spricht sie von Auswanderungsplänen: Neuseeland. | |
| Vorbild sein? Zeynelabidin ist „hauptberuflich selbstständig“. Sie hält | |
| Vorträge, publiziert Essays, seit Neuestem auch Gedichte. Sie engagiert | |
| sich im Interreligiösen Dialog und mag runde Tische. 2007 hat sie den | |
| Lutherpreis „Das unerschrockene Wort“ bekommen. Ob sie anderen ein Vorbild | |
| ist? „Ich bin kein Vorbild, ich will auch kein Vorbild sein“, Zeynelabidin | |
| überlegt und zitiert dann Kant: „Vielleicht will ich, dass man mir in einem | |
| Aspekt folgt. Ich will, dass man sich traut, sich seines eigenen Verstandes | |
| zu bedienen.“ | |
| Und die Merkel-Frage? „Ich wünsche mir von Merkel, dass sie diesem | |
| männlich-strukturierten politischen System klare Kante zeigt, sich traut, | |
| mit weiblichen Merkmalen Politik zu betreiben.“ Außerdem wünscht sie ihr | |
| alles Gute. | |
| 29 Jul 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Lea Diehl | |
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