# taz.de -- Erdoğans Einsatz für Kopftuchträgerinnen: Mit väterlichen Grü�… | |
> Erdoğan setzt sich plötzlich für die Rechte von Frauen ein. Also für | |
> Frauen, die Kopftuch tragen, versteht sich. Aber welches Kopftuch meint | |
> er? | |
Bild: Welcher Kopftuchträgerin genau kommt Erdogans Fürsprache zugute? | |
Neulich gab der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan der | |
[1][deutschen Zeit ein Interview]. Darin äußerte er Interessantes über | |
Frauen, Kopftücher und Freiheit: | |
„Nun, wo ist die Glaubensfreiheit? Was gibt es Natürlicheres als eine Frau, | |
die aufgrund ihres Glaubens ihren Kopf verhüllt? So sehr wie Sie sich für | |
die Freiheit von Deniz Yücel einsetzen, so wenig setzen Sie sich für die | |
Freiheit dieser Frauen ein. Sie gehen schlafen, Sie wachen auf und sagen: | |
Deniz.“ | |
Mal ganz abgesehen davon, dass der Vergleich der Bewegungs-, Meinungs- und | |
Pressefreiheit Deniz Yücels mit der allgemeinen Kopftuchtragefreiheit von | |
muslimischen Frauen eindeutig hinkt, sollten für den türkischen Präsidenten | |
auch noch weitere Dinge klargestellt werden. | |
Dass die Glaubensfreiheit von jeglichen Religionsgemeinschaften im | |
deutschen Grundgesetz verankert ist, zum Beispiel. Dass einige | |
kopftuchtragende Musliminnen mittlerweile sichtbar sind und sehr wohl für | |
sich selbst sprechen können. Und dass kopftuchtragende Musliminnen das | |
Kopftuch in ihrem Beruf als Lehrerinnen aufbehalten können, was ihr gutes | |
Recht ist. Es gibt mittlerweile sozialdemokratische, linksalternative oder | |
feministische Strömungen, die das Selbstbestimmungsrecht von | |
Kopftuchträgerinnen verteidigen. | |
## „Emanzipierte Kopftuchträgerin“ bleibt eine leere Hülle | |
Die Bedeutung des Kopftuchs hängt vor allem davon ab, wie die jeweilige | |
Trägerin den Islam definiert und auslebt. Auch davon, mit welchen | |
muslimischen Organisationen, Verbänden und islamischen Communitys sie sich | |
identifiziert oder nicht. Fühlen sich Kopftuchträgerinnen mit türkischem | |
Background etwa zu türkisch-muslimischen Verbänden wie Ditib, Milli Görüş | |
oder der Fethullah-Gülen-Bewegung zugehörig? Wenn ja, wie sind sie in | |
diesen eindeutig politisch-islamisch, teilweise islamistisch und | |
patriarchalisch strukturierten Verbänden aktiv? Diese Einstellungen | |
bestimmen die jeweilige Bedeutungsvariante des Kopftuchs mit. | |
Das Kopftuch kann auch eine emanzipatorische oder sogar feministische | |
Bedeutung annehmen – wenn die Trägerin entsprechende Orientierungen hat und | |
auslebt. Aber eben nur dann! Berücksichtigt werden müssen auch | |
politisch-islamische patriarchalische Bedeutungsvarianten des muslimischen | |
Kopftuchs. Diese werden in Deutschland bis dato entweder ignoriert oder | |
einseitig pauschalisiert. Wie etwa von Alice Schwarzer, die das Kopftuch | |
zur „Flagge des Islamismus“ erklärt – was in manchen Medien und | |
rechtspopulistischen Kreisen auf Resonanz stößt. Auch Necla Kelek nähert | |
sich dem Islam- und Kopftuchthema auf dieselbe undifferenzierte Art und | |
Weise. Und auch jüngere Frauen treten in die Fußstapfen solch kolonialer, | |
sogenannter westlicher Feministinnen. | |
Junge linksfeministische Stimmen in Deutschland haben hingegen das | |
Selbstbestimmungsrecht von Kopftuchträgerinnen endlich zu verteidigen | |
gelernt – leider aber ebenso undifferenziert: Sie lassen dabei | |
ethnisch-biografische Hintergründe einzelner Frauen und ihre Zugehörigkeit | |
zu politisch gefärbten muslimischen Organisationen außer Acht. Die | |
Variante „emanzipierte Kopftuchträgerin“ bleibt damit eine leere Hülle. | |
Und der türkische Präsident ? Geht es ihm tatsächlich um die „Freiheit“ | |
oder Selbstbestimmung von Kopftuchträgerinnen? Oder geht es ihm vielmehr | |
eher um eine bestimmte Gruppe von Frauen, die das Kopftuch im Rahmen einer | |
bestimmten politisch-islamischen Ideologie trägt? Und damit ein | |
Zeichensymbol schafft für seine Partei und weitere Geistesgenoss*innen? | |
Letzteres scheint wahrscheinlicher. | |
## Wem kommt Erdoğans Fürsprache zugute? | |
Die Mehrheit der deutsch-türkischen Kopftuchträgerinnen hat ihre Werte und | |
Definitionen des Islams hauptsächlich ihren Eltern und ihrer Sozialisation | |
in türkisch-muslimischen Moscheegemeinden der Milli Görüş zu verdanken. | |
Milli Görüş ist eine AKP- und Erdoğan-nahe Organisation und ihre | |
Anhänger*innen befürworten im Grunde – bis auf wenige machtlose kritische | |
Stimmen – die AKP-Politik und einen politischen Islam. In zugehörigen | |
Moscheegemeinden und gezielt organisierten Veranstaltungsreihen bekommt der | |
Nachwuchs Werte und Pflichten eines bestimmten Islams vermittelt, die mit | |
einem islamistisch-patriarchalischen Geschlechterbild einhergehen. Viele | |
dieser jungen Menschen übernehmen solche Werte immer noch unreflektiert und | |
unkritisch. | |
Ebenso gibt es eine winzig kleine Gruppe von Frauen unter den Milli Görüs | |
und/oder AKP-Anhängerinnen, die diese Ideologie- und Kleidungsvorschriften | |
bewusst zurückweist. Diese Frauen wollen von keiner | |
ideologisch-islam(ist)ischen Richtung gefärbt sein, sondern einfach nur | |
ihren Glauben als Muslimin ausleben, der „Umma“ (Arabisch für „muslimisc… | |
Gemeinschaft“) nah sein. Dafür werden sie von vielen verbandstreuen Frauen | |
kritisiert und kontrolliert. Diese Frauen sind jedoch bis dato unsichtbar, | |
und sie schweigen zu den Umständen. Würde der türkische Präsident auch noch | |
die Kopftuchfreiheiten dieser Frauen verteidigen? | |
Der Einsatz Erdoğans für die Rechte von Frauen verwundert – tat er doch | |
bislang alles dafür, genau das Gegenteil von Frauenemanzipation zu | |
bewirken. Man denke an sein Geburtengebot von mindestens drei Kindern pro | |
Frau in der Türkei, an die Bildungsreform, die Frauen langfristig wieder an | |
den Herd beförderte und zuletzt an die Frauendemos am 8. März, die von | |
seinen Sicherheitsleuten gewaltvoll gestoppt wurden, auch die | |
Kopftuchträgerinnen unter ihnen. Auch wenn Erdoğan mit dafür gesorgt hat, | |
dass das Kopftuch an öffentlichen Institutionen und Universitäten in der | |
Türkei erlaubt ist – vorher war es durch das laizistische Prinzip verboten | |
– welcher Kopftuchträgerin kommt seine Fürsprache genau zugute? | |
Und wie steht es eigentlich um die übrigen Musliminnen, die kein Kopftuch | |
tragen? Wenn das Kopftuchtragen etwas derart Natürliches geworden ist, wie | |
er beschreibt, sind die übrigen Frauen dann der Natur zuwider? Die ganzen | |
Laizistinnen, Kemalistinnen, Alevitinnen, Kurdinnen und sonstigen | |
Nicht-Kopftuchträgerinnen? Oder Gülenist*innen, die teilweise Kopftuch | |
tragen und bis zu dem einschlägigen Beef von Recep Tayyip Erdoğan und | |
Fethullah Gülen schwesterlich befreundet mit Milli Görüş und | |
AKP-Anhänger*innen dieselben Moscheevereine besuchten? Was ist mit den | |
Rechten und Freiheiten dieser Frauen? „Von welchem Kopftuch sprechen Sie | |
genau, Herr Präsident?“, möchte frau ihn nachhakend fragen. | |
## „Diese Frauen brauchen Ihre Befreiung nicht!“ | |
Aussagen wie die von Recep Tayyip Erdoğan spielen zudem der | |
rechtspopulistischen Instrumentalisierung des Kopftuchs zu. Sie befeuern | |
Islamhass, weil die Islamhasser sowieso nur die eine politisch-ideologische | |
Variante des Kopftuchs kennen und meinen. Antimuslimischer Rassismus aber | |
betrifft nicht nur Anhänger*innen der AKP, sondern alle Muslim*innen und | |
exmuslimischen Atheist*innen! | |
Fraglich ist auch, ob Erdoğans Verständnis von Freiheit für | |
Kopftuchträgerinnen als patriarchale Bevormundung betrachtet werden kann. | |
Von der haben sich junge, selbstbewusste Kopftuchträgerinnen in Deutschland | |
in den letzten Jahren zu befreien versucht. Man denke an die Protestaktion | |
„Topless Jihad Day“ von sechs Femen-Aktivistinnen im April 2013 vor der | |
Ahmadiyya-Moschee in Berlin, bei der sie behaupteten, die muslimische | |
Kopftuchträgerin sei „unfrei“, müsse also „befreit“ werden. Einen Tag | |
später antworteten sechs kopftuchtragende Musliminnen mit dem „Muslima | |
Pride Day“. Sie hielten Schilder hoch mit Slogans wie: „Wir brauchen eure | |
Freiheit nicht“ oder „Wir sind schon frei!“ | |
Später entpuppte sich eine der Gegendemonstrantinnen mit einem Posting in | |
sozialen Medien jedoch als Erdoğan- und AKP-Fan. Fragt sich, von welcher | |
Art „Bevormundung“ sich die Kopftuchträgerinnen hier genau distanziert | |
haben? Verdeutlichen solche Gesten nicht doch die eindeutige Duldung von | |
islamisch-patriarchalischer Bevormundung? In den letzten Jahren hat sich | |
eine große Mehrheit von Kopftuchträgerinnen mit türkisch- muslimischem | |
Background gebildet, welche die Politik und Ideologie Erdoğans – und der | |
AKP – befürwortet, nur eben nicht für die nichtmuslimische | |
Mehrheitsgesellschaft sichtbar, sondern stillschweigend in internen Kreisen | |
politisch agierend. | |
„Verehrter Herr Präsident“, möchte man dem türkischen Präsidenten sagen, | |
„diese Frauen brauchen Ihre Befreiung nicht!“ Kopftuchträgerinnen in | |
Deutschland sind selbstbestimmt genug, um zu entscheiden, ob sie ihr | |
Kopftuch mit politisch-islamischen Bedeutungen der AKP füllen oder nicht! | |
Die Frage ist eher: Wollen sie es? | |
30 Jul 2017 | |
## LINKS | |
[1] http://www.zeit.de/2017/28/recep-tayyip-erdogan-g20-gipfel-interview | |
## AUTOREN | |
Reyhan Sahin | |
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