# taz.de -- Die Wahrheit: Rein, raus, raus, rein | |
> Die Richtung beim Hin und Her hat es in sich, denn beides bedeutet | |
> Unterschiedliches in der Hochsprache. Eine Sprachkritik. | |
Bild: In welche Richtung die Zunge zeigt, bestimmen Sprecher selbst | |
„Ich hab’s mir angewöhnt, dass ich jeden Tag in der Früh in den Garten | |
schau und vielleicht eine Blume hinrichte“, lautet ein bekannter Schwupper | |
von Edmund Stoiber. Auch wenn man es dem größten Bayern aller Zeiten seit | |
Franz Josef Strauß nicht anhört: Der Fehler rührt daher, dass Stoiber auf | |
Hochdeutsch bairisch spricht. Im Dialekt steht „hinrichten“ für | |
„herrichten“. | |
Dass „hin“ und „her“ in der Hochsprache Unterschiedliches bedeuten, kann | |
man auch aus dem Beispielpaar „etwas hermachen“ und „etwas hinmachen“ | |
ersehen. In Fällen wie diesen vereinen sich die Adverbien mit dem Verb zu | |
einer völlig neuen Bedeutung, die gelernt werden muss. Einfacher sollte es | |
sein, wenn „hin“ und „her“ ihrem ursprünglichen Sinn gemäß entgegeng… | |
Richtungen markieren: Führt die Bewegung zum Ort des Sprechers, steht | |
„her“: „Herein, wenn’s kein Schneider ist!“ Führt sie von ihm weg, s… | |
„hin“: „Hinaus, Schurke!“ | |
Es ist aber nicht einfacher. Wenn beispielsweise auf NDR4 in einem Feature | |
über Margarete von Görz-Tirol alias Margarete Maultasch, die 1341 ihren | |
Gemahl Johann Heinrich von Luxemburg in die Wüste schickte, gesagt wird: | |
„Es war das erste Mal in Europa, dass eine Frau ihren imperfekten Mann | |
herausgeworfen hat“, dann muss der männliche Sprecher vor Schreck die | |
Orientierung verloren haben. | |
## Verdrehte Perspektive | |
Genauso verdreht erscheint die Perspektive in einem Buch über das | |
nordirische Fußballgenie George Best, das sich zu Tode soff: „In Rosalyns | |
Gegenwart trinkt George nicht. Aber sobald sie zur Tür heraus ist, greift | |
er zur Flasche.“ Und sobald sie wieder zur Tür hinein ist, schüttet er sich | |
keinen Alkohol mehr herein? Den hat stattdessen der Autor intus. | |
Ganz sicher hatte ihn E. T. A. Hoffmann 1819 intus, der mit staunenswerter | |
Folgerichtigkeit, ja Folgefalschheit die beiden Richtungsangaben | |
verwechselt! Nur ein Beispiel von vielen aus dem Märchen „Klein Zaches, | |
genannt Zinnober“: Fabian rennt seinem Freund Balthasar nach, der aus der | |
Stadt fliehen will, ereilt ihn „dicht vor dem Tore“ und nimmt ihn ins | |
Gebet: „Balthasar, willst du wieder heraus in den Wald!“ | |
Oder doch ein zweites Beispiel: „Die Gestirne zogen daher“, heißt es in | |
„Meister Floh“. Erst Eckhard Henscheid macht es 170 Jahre später richtig | |
und nennt seinen Sammelband mit Feuilletons „Die Wolken ziehen dahin“. | |
Einmal hin, einmal her, das auseinanderzuhalten ist offenbar schwer; umso | |
mehr, als nicht nur „heraus“, sondern auch „hinaus“ durch simples „ra… | |
ersetzt werden kann – weshalb es im simplen Umkehrschluss schiefgeht. Sogar | |
bei Kurt Tucholsky! In „Schloss Rheinsberg“ besucht der Erzähler mit seiner | |
Verlobten ein Weißwarengeschäft. „Zwei gutmütig ältliche Wesen, die ein | |
wenig muffig rochen“, führen es, kümmern sich aber demonstrativ nicht um | |
die Kundschaft, bis endlich eine sagt: „Mochte der dschunge Herr nicht so | |
lang rausgehen …“ – „,Welch treue Seele’“, dachte er. Und ging hera… | |
Die Vermutung „geht weit in die Zukunft herein“ (Deutschlandfunk), dass das | |
„hin“ eines Tages verschwunden, also herüber, pardon: hinüber sein wird. | |
Bis es so weit ist, trifft man es noch dort, wo es falsch ist. „Die | |
Großeltern kamen die Treppe hinunter“, schreibt F. C. Delius in seinem | |
Roman „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“, obwohl der Icherzähler | |
sie am Fuß der Treppe erwartet. „Die Wildwasser brechen über uns hinein“, | |
soll dem deutschen Übersetzer zufolge der von weltpolitischen Vorahnungen | |
geplagte Romancier Henry James nach Königin Viktorias Tod gesagt haben. | |
## Keine endgültige Klarheit | |
Damit brechen die Wildwasser auch in diese Glosse hinein! Sollten Sie sich | |
nämlich von der Lektüre endgültige Klarheit versprochen haben, so sind Sie | |
hereingefallen. Oder hineingefallen! „Wir fallen darauf hinein“, konnte man | |
schon im Deutschlandfunk hören, und tatsächlich wird diese Verwendungsweise | |
vom Duden gedeckt. Der ist freilich opportunistisch und findet „im | |
Nachherein“ (Claus Peymann, ebenfalls im Deutschlandfunk) vieles richtig, | |
was er einmal falsch fand. | |
Überhaupt geht es nicht nur hin oder her, sondern in vielen Fällen beides: | |
einen Bissen kann man sowohl herunter- wie hinunterwürgen. „In München 1938 | |
wurde Stalin aus Europa herausgedrängt“, schreibt wiederum die taz. Von | |
Deutschland oder Europa aus gesehen, also von dort, wo die Zeitung und ihre | |
Leser sich befinden, wurde Stalin aber hinausgedrängt. Das Verb, sagt der | |
Duden, trägt die Hauptbedeutung und drängt die des Präfixes heraus. Oder | |
doch eher hinaus? | |
Die deutsche Sprache kann sehr genau sein. Die deutschen Sprecher sind es | |
weniger. Sie sind es sogar so wenig, dass sie nicht allein das als | |
umgangssprachlich empfundene Präfix „raus“ schriftlich in ein förmliches | |
„heraus“ hochmendeln, sondern sogar das nur scheinbar verwandte „aus“. | |
Infolgedessen wird eine Parole „herausgegeben“ (Schach-Magazin 64), und die | |
taz meldet: „Bayern hat sich ein paar Extras herausgehandelt.“ Immerhin | |
besser, als sich was hereinzuhandeln! | |
5 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Peter Köhler | |
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