| # taz.de -- Die Wahrheit: Spannende Spermaspuren | |
| > Die Wahrheit-Arthouse-Reportage – ein Dorf goes Kunst: Die Lamenta setzt | |
| > neue Maßstäbe mit Misthaufen und diversem Schweinkram. | |
| Bild: Das Quieken der Schweine gemahnt an der Hunger in der Welt | |
| „Arts ain’t artig!“ Die Inschrift über der Einfahrt zum Hof von Hermann | |
| Papendiek kann gut als Motto der diesjährigen Lamenta gelten, die wie immer | |
| in Volkerode im Landkreis Göttingen stattfindet. Genaugenommen beginnt sie | |
| schon vor dem Tor: Bereits viele Meter davor stimmt ein strenger Geruch die | |
| Besucher auf die Kunstausstellung ein. Wer eintritt, sieht zur Rechten die | |
| Ursache – einen großen Misthaufen. | |
| „Man lasse sich von der Oberfläche des Kunstwerks nicht irreführen“, warnt | |
| der Reader und erläutert das dahinterstehende Konzept: „Der Mist ist | |
| keineswegs Mist, sondern steht hintergründig für den Mist, der irgendwo in | |
| der Welt everyday happens.“ Die Kunstausstellung, organisiert vom örtlichen | |
| Kulturbund des Landbauernvereins, findet seit 1955 statt und will mit den | |
| Mitteln der Ästhetik kritisch die Probleme der globalisierten Gesellschaft | |
| thematisieren, hinterfragen und problematisieren. | |
| In der Mitte des Hofs hat Hermann Papendieks ältester Sohn Robin einen | |
| Haufen Kartoffeln aufgeschichtet. Die Erdfrucht symbolisiert die | |
| Einzigartigkeit und Freiheit des Individuums, weil jede anders ist, und | |
| steht für eine selbstbestimmte sexuelle Orientierung: „Die Kartoffel hat | |
| keine eindeutigen biologischen Geschlechtsmerkmale und kann sich frei für | |
| eine der vielen Geschlechter-identitäten entscheiden“, erläutert Robin, als | |
| der Vater weit genug weg ist, mit auffallend heller Stimme sein Exponat und | |
| streicht sich über den Bart. | |
| ## Mit entschiedenem Gestus die Weltrettung einleiten | |
| Wer sich nach links wendet, sieht schwarzen Rauch aus dem Schornstein des | |
| Wohngebäudes aufsteigen. Auf den ersten Blick ein Kunstwerk, das die | |
| andernfalls längst vergessenen Krematorien der nationalsozialistischen | |
| Vernichtungslager ins Gedächtnis ruft. Auf den zweiten Blick erschließt | |
| sich die tiefere Interpretationsebene: Mit ihrer provokativen Aktion, im | |
| Sommer zu heizen, ruft Papendieks Tochter Caroline nur wenig verschlüsselt | |
| zur Abkehr von fossilen Brennstoffen auf. Zugleich hat die Künstlerin, | |
| deren Installation mit entschiedenem Gestus die Weltrettung einleitet, | |
| sogar einen dritten Boden eingezogen: Der schwarze Rauch erinnert auf | |
| intelligente Art und Weise an den weißen, der bei der Papstwahl des | |
| Hoffnungsträgers Franziskus I. aufstieg. | |
| Aus dem Stall erinnert das Quieken der Schweine an die Mittagszeit. Die | |
| Mittagszeit, so der Reader, soll die Besucher an den Hunger in der Welt | |
| gemahnen. Wenn sie in der Dorfgaststätte eine kräftige Mahlzeit einnehmen, | |
| geht deshalb ein Euro von jedem Gericht an eine Hilfsorganisation, die in | |
| Afrika den nach Kunst Hungernden den Ankauf europäischer und | |
| US-amerikanischer Kunstwerke ermöglicht. Und auch Künstlern genuin | |
| südniedersächsischer Provenienz eine Bühne gibt! | |
| ## Den anthropozentrischen Rassismus bloßstellen | |
| Papendieks Hof ist der zentrale Ort der Lamenta, aber nicht der einzige. Im | |
| Dorfgemeinschaftshaus hat sich Eberhard Wollenweber den Maler Baselitz zum | |
| Vorbild genommen und seine eigenen Bilder mit der Rückseite zum Betrachter | |
| aufgehängt. Im Dorfladen gegenüber hat Ingeborg Schrader eine Serie von | |
| Lichtbildern aufgehängt – der Clou: Es sind Fotos von Schwarzen, die durch | |
| ihr „Whitefacing“ auf die Identitätsproblematik des Identitätsproblems | |
| verweisen und den anthropozentrischen Rassismus bloßstellen, entlarven und | |
| abschaffen. Nur naive Betrachter stoßen sich daran, dass die Fotografierten | |
| wie die typischen klobigen Einwohner eines südniedersächsischen Dorfes | |
| aussehen – Kunstkenner hingegen würdigen die trickreiche Vorgehensweise, | |
| mit der Ingeborg Schrader darauf insistiert, dass wir alle Menschen sind. | |
| Auch wenn es manchen „Menschen“ nicht passt! | |
| Auf dem Dorfplatz unter den Linden hat Penelope, die eigentlich Erna | |
| Wackereisen heißt, einen Schlauch installiert, der zuckend Wasser spuckt, | |
| wenn kein Besucher damit rechnet. Es handelt sich um die queere Version | |
| einer Fontäne, die durch überall im Dorf und sogar auf den Straßen | |
| herumliegende Backsteine ergänzt wird. „Das sind Spermaspuren! Warum fragen | |
| Sie?“, gibt sich die Künstlerin selbstbewusst und macht mit dieser | |
| Installation ihre Kritik an der repressiven, patriarchalen und immer noch | |
| existenten Gesellschaft deutlich. Die Hauptstraße selbst – gerade treibt | |
| als Parabel des menschlichen Herdentriebs ein Hirte seine Kühe heim – hat | |
| Konzeptkünstler Ernst Wallach für die 100 Tage der Lamenta zu einem | |
| symbolträchtigen Weg umfunktioniert und „Street in a bettere Future“ | |
| getauft. Bis Sieboldshausen, dem nächsten Dorf, sind es 1,5 Kilometer. | |
| Im letzten Haus vor dem Ortsausgangsschild wohnen Ilse und Georg | |
| Brockhagen, die die Lamenta kuratiert haben: „Volkerode besitzt mit ihr ein | |
| Alleinstellungsmerkmal. So ist unser Ort im Wettbewerb mit den | |
| Nachbardörfern gut positioniert und auch im internationalen Kunstbetrieb | |
| bestmöglich aufgestellt!“ Dass die Lamenta dem Dorfmarketing dient, | |
| verschweigen sie nicht. „Wir hoffen auf einige Hunderttausend Besucher“, | |
| schielen Brockhagens auf die große Schwester in Kassel: „Dann können wir im | |
| Dorf viele neue Traktoren kaufen!“ | |
| 16 Jun 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Köhler | |
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