# taz.de -- Ausstellung über Verschwundene: Die traurige Kontinuität Mexikos | |
> Die Schau „Spuren der Erinnerung“ kommt von Mexiko über England, | |
> Frankreich und Italien nach Berlin. Sie hat große politische Bedeutung. | |
Bild: Installation des Künstlers Alfredo López Casanova in der Böll-Stiftung… | |
MEXIKO-STADT taz | Jede Sohle erzählt von einer Geschichte. Zum Beispiel | |
die von Letty Hidalgo: „Ich suche meinen Sohn Roy. Er ist am 11. Januar | |
2011 verschwunden.“ Oder die von Margarita Zacarías, der Mutter eines | |
Studenten der Lehrerschule Ayotzinapa, der am 26. September 2014 | |
verschleppt wurde: „Mein Sohn, ich möchte dir sagen, dass ich viel gegangen | |
bin, um dich zu finden. Aber du sollst wissen, dass ich nicht aufgeben | |
werde, und wenn es mich das ganze Leben kostet.“ | |
Der Künstler Alfredo López Casanova hat solche Sätze in die Sohlen von | |
Schuhen graviert. In die verschlissenen Sandalen, Stiefel oder Turnschuhe | |
von Menschen, die sich in Mexiko auf der Suche nach ihren verschwundenen | |
Angehörigen und Freunden befinden. Viele von ihnen haben damit Tausende von | |
Kilometern zurückgelegt, um ihre Freunde und Angehörigen zu finden. Aus | |
abgelegenen Dörfern der südmexikanischen Sierra sind sie nach Mexiko-Stadt | |
gereist, um dort von oftmals gleichgültigen Staatsanwälten abgewiesen zu | |
werden. | |
Von einer Polizeibehörde zur nächsten sind sie gezogen, um dann häufig von | |
korrupten Beamten beleidigt zu werden. Und immer wieder haben sie auf | |
Demonstrationen und Märschen gefordert, dass ihre Stimme gehört wird; dass | |
die Behörden aufklären, was mit ihren Angehörigen geschehen ist. | |
Wo diese Menschen wohl überall waren, fragte sich der Bildhauer López, als | |
er am Muttertag 2013 an einem Marsch der Angehörigen teilnahm. So entstand | |
die Idee für das Projekt „Huellas de la Memoria“ – „Spuren der Erinner… | |
–, in dessen Rahmen er bisher 170 Schuhe gesammelt hat. Dabei geht es dem | |
Künstler explizit nicht um ein Erinnern an Vergangenes: „‚Huellas de la | |
Memoria‘ porträtiert das Desaster des Landes und die humanitäre Krise, in | |
der wir leben.“ Einen Teil der Sammlung hat López bereits in Mexiko | |
ausgestellt, zusammen mit Kunstdrucken, die er und sein Team aus den | |
gravierten Sohlen herstellen. So entsteht ein Ensemble aus Drucken und | |
Schuhen, die als Installation an Fäden von der Decke hängen. | |
Ab dem 4. Juli ist die Ausstellung in der Berliner Heinrich-Böll-Stiftung | |
zu Gast. Danach wird sie im Neurotitan im Haus Schwarzenberg, ebenfalls in | |
Berlin, zu sehen sein. Und dann in Nürnberg, das wegen der | |
Kriegsverbrecherprozesse für López ein Symbol darstellt gegen die | |
Straflosigkeit, die in seinem Land vorherrscht. | |
Über 32.000 Menschen gelten nach Angaben der mexikanischen Regierung | |
derzeit als verschwunden. Die tatsächliche Zahl dürfte weitaus höher | |
liegen. Manche werden von Banden der organisierten Kriminalität verschleppt | |
und gezwungen, für sie zu arbeiten. Zum Beispiel Migrantinnen und | |
Migranten, die sich auf dem Weg in die USA befinden und dann unfreiwillig | |
als Drogenschmuggler oder Prostituierte enden. Andere verschwinden, während | |
sie sich in den Händen von Polizisten oder Soldaten befinden. | |
Immer wieder trifft es auch Journalisten, indigene Aktivisten oder | |
kritische Umweltschützer. Manchmal werden ihre Leichen in Massengräbern am | |
Rande von Dörfern, auf Fincas oder in abgelegenen Waldstücken entdeckt. | |
Von vielen fehlt jedoch für immer jede Spur. Die Angehörigen der 43 | |
Ayotzinapa-Studenten, die vor zweieinhalb Jahren von Kriminellen und | |
Polizisten verschleppt wurden, betonen: „Lebend habt ihr sie uns genommen, | |
lebend wollen wir sie zurück.“ | |
## Die Welt aufrütteln | |
Es ist vor allem auch die Ungewissheit, die Verwandte und Freunde von | |
Verschwundenen zum Verzweifeln bringt. Der spanische Arzt und Psychologe | |
Carlos Martín Beristaín beschreibt in seinem Buch „El Tiempo de | |
Ayotzinapa“, wie viele Fragen die Angehörigen unermüdlich quälen. Berista�… | |
gehörte einer Expertengruppe an, die im Auftrag der Interamerikanischen | |
Menschenrechtskommission den Fall der 43 Studenten untersucht hat. Wie kaum | |
ein anderer hat er deren Kommilitonen, Väter und Mütter, aber auch die | |
Arbeit der Ermittler kennengelernt. | |
Sein Buch, aus dem er bei der Ausstellungseröffnung in der Böll-Stiftung | |
lesen wird, ist ein Zeugnis der Gleichgültigkeit und Verachtung, mit der | |
die mexikanischen Behörden die Angehörigen behandeln. „Während die Familien | |
diese Qualen erleiden, hat die übrige Welt keine Eile“, schreibt er. | |
Künstler López will diese übrige Welt aufrütteln. Mit einer Handvoll | |
Freiwilligen trifft er sich jeden Samstag in einem kleinen Atelier, das | |
sich in einem heruntergekommenen Kolonialstil-Gebäude im mittlerweile | |
gentrifizierten Zentrum von Mexiko-Stadt befindet. Hier stehen die | |
abgelaufenen Sandalen eines Indigenen, dort die Stiefel eines Bauern und | |
die Damenschuhe einer Arbeiterin. Selbst aus Guatemala, Kolumbien und | |
Argentinien habe er Päckchen und Karten bekommen, sagt López. | |
Ihm geht es darum, die vielfältigen Gründe des Verschwindens darzustellen. | |
Also findet sich im Atelier das Schuhwerk des Sohnes der Polizistin Araceli | |
Rodríguez ebenso wie das des Vaters von Nadim Reyes, der der | |
Guerillagruppe EPR angehörte. Zugleich zeigt die Sammlung eine traurige | |
Kontinuität auf: Eines der Objekte verweist auf einen Guerillero, der | |
bereits 1969 in Mexiko verschwunden ist. | |
Während López den Namen eines Absenders in einer Datei erfasst, gravieren | |
seine Kollegen behutsam Buchstaben in die Schuhe. Mit einer kleinen Walze | |
fährt der Künstler später sorgfältig über die Sohlen, um diese grün | |
einzufärben und als Stempel für die Kunstdrucke zu benutzen. Grün stehe für | |
die Hoffnung, erklärt er. Denn mit den „Spuren der Erinnerung“ will er | |
nicht nur das Andenken an die Fehlenden stärken, sondern auch jene sichtbar | |
machen, die nach ihnen suchen. | |
## „Die Wahrheit setzt sich durch“ | |
Eine von ihnen ist die Honduranerin Ana Enamorado. Vor sieben Jahren ist | |
ihr Sohn Oscar in Mexiko verschwunden. Sie ist daraufhin nach Mexiko-Stadt | |
gezogen. Von hier aus macht sie sich seither auf die Suche nach ihm und | |
erlebte, wie die Behörden den Fall unter den Tisch kehren. Auch sie hält | |
sich an diesem Nachmittag im Atelier auf. Sie ist gerade aus Rom | |
zurückgekommen, wo die Ausstellung gezeigt wurde, bevor sie nun in Berlin | |
zu sehen ist. | |
„Die Schuhe, zusammen mit den Botschaften von uns Angehörigen, hatten eine | |
beeindruckende Wirkung auf die Besucher“, sagt sie. Nun erhofft sie sich, | |
dass das Verschwindenlassen auch auf der anderen Seite des Atlantiks | |
wahrgenommen wird. Nur so bestehe Hoffnung, dass sich in Mexiko etwas | |
bewegt: „Die Regierung muss spüren, dass sie Druck von außen bekommt.“ | |
London, Nizza, Berlin – für López hat die „Europatour“ eine große | |
politische Bedeutung. Mexikos Diplomatie sei effektiv, wenn es gelte, die | |
katastrophalen Verhältnisse im Land zu verschleiern, sagt er. Mit den | |
Schuhen, diesen physisch erfassbaren Beweisen des Kampfes der Angehörigen, | |
will er dieses Bild demontieren. Dazu hat er sich die verschiedensten Orte | |
ausgesucht: In Rom wird die Ausstellung in einem besetzten Haus gezeigt, in | |
Paris in einem Kulturzentrum, in Padua in einer ehemaligen Waffenfabrik, in | |
London in den Räumen von Amnesty International. Im Berliner Neurotitan wird | |
Amnesty mit einer eigenen neuen Wandtafel-Ausstellung dabei sein. Der | |
Titel: „Wo sind sie? Kein Mensch verschwindet spurlos.“ | |
Einige dieser Spuren ausfindig zu machen ist das Verdienst der | |
Angehörigen-Organisationen, mit denen López eng zusammenarbeitet. „Die | |
Wahrheit setzt sich durch“, so der Psychologe Carlos Beristaín, „wenn es | |
jemand gibt, der sie voranbringt.“ | |
3 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Wolf-Dieter Vogel | |
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