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# taz.de -- Kohl und die deutsche Vergangenheit: Zerstörung, Schuld, Gefahr
> Der verstorbene Altkanzler war geprägt von den Erfahrungen der NS-Zeit.
> Sie begründen die Ambivalenz des christdemokratischen Politikers.
Bild: Helmut Kohl im Jahr 1974. Da war er Ministerpräsident von Rheinland-Pfal…
Wenn er über Geschichte redete, war Helmut Kohl uns peinlich. Er posierte
mit Reagan in Bitburg, wo auch Waffen-SS-Mitglieder begraben waren. Er
verglich Gorbatschow mit Goebbels und rühmte sich in Israel der „Gnade der
späten Geburt“ als wäre es ein Orden. Auch was er persönlich über die
NS-Zeit sagte, klang wie Ausrede. 1984 erklärte er, dass „eine wirklich
gelebte Familie ein Bollwerk gegen jede totalitäre Entwicklung des Staates
ist“ und meinte sein Elternhaus. Solche Parolen klangen für uns, mit der
Gnade noch späterer Geburt und mitunter mit abwaschbarer antifaschistischer
Gratismoral ausgerüstet, ungeschickt, linkisch und dümmlich. Alles
Entlastungsmanöver. Der Mann, ein plumper Techniker der Macht, war zum
Fremdschämen.
Kohls Elternhaus war, typisch für Katholiken, skeptisch gegenüber den
Nazis, aber keine Trutzburg des Antifaschismus. Der Vater war Offizier im
ersten Weltkrieg gewesen, die Familie stolz, als die Wehrmacht 1940 halb
Europa überrollte. Das verging rasch. 1940 kehrte der Vater aus Polen
zurück und sagte: „Wenn wir büßen müssen, was wir dort anrichten, haben w…
nie mehr etwas zu lachen.“ Seit 1943 zählten Bombenangriffe, Lebensgefahr
und Kinderlandverschickung zum Alltag. Eine dramatische Einkerbung war der
Tod des älteren Bruders Walter Ende 1944. Der Vater hatte ihn zur
militärischen Karriere gedrängt, und versank danach in Schuld und
Schweigen.
Helmut Kohl, ein Vitalitätsbolzen schon damals, brachte es in der
Hitlerjugend (HJ) zum Jungenschaftsführer. Am 20. April 1945, Hitlers
Geburtstag, wird er in HJ-Uniform im NS-Wehrertüchtigungslager in
Berchtesgaden auf den Führer vereidigt. Der 15-Jährige soll die Flak
bedienen lernen, um im Endkampf die Alpenfestung der Nazis zu verteidigen.
Ein Tag bevor Deutschland endlich kapituliert, am 7. Mai, macht sich Kohl
zu Fuß auf den Weg nach Hause in die Pfalz.
## Das Bulldozerhafte
Das Szenario hat etwas Alptraumhaftes. Er sieht von der SS-Gehängte
Wehrmachtsoldaten, die an Bäumen baumeln, durchquert Ruinen, wo Städte
waren. Bei Augsburg verprügeln polnische Zwangsarbeiter, die endlich frei
sind, Kohl und seine Jungvolk-Freunde, die noch immer in Braunhemden
unterwegs sind.
Man mag spekulieren, dass Kohls Zögern 1990 die deutsche Ost- und die
polnische Westgrenze anzuerkennen, ein Nachhall dieser Begegnung war. Da
war viel Tod, Schuld, Gefahr, zu viel für einen 15-Jährigen. Mag sein, dass
die Erfahrung von Chaos, Zerstörung, Bedrohung das Bulldozerhafte des
Politikers Kohl katalysierte.
Der Historiker Hans-Peter Schwarz, der – ein seltsamer dramatischer Zufall
– ein paar Tage vor dem Altkanzler starb, hat eine kundige, dem Ex-Kanzler
gewogene Biographie verfasst und dabei die Prägungen durch die NS-Zeit
herauspräpariert. Kohl hat – wie die Generation Bundesrepublik – aus dem
Desaster, das die Väter angerichtet hatten, jene Konsequenzen gezogen, die
zur raison d'être der Republik wurden. Bindung an den Westen, Aussöhnung
mit Frankreich, das Postnationale, eine skeptische Haltung gegenüber Krieg,
und vor allem – ein geeintes Europa.
Einem französischen Journalisten erklärte Kohl in der Spätphase seiner
Kanzlerschaft, warum er die europäische Einigung so dringend will. Er habe
seiner Mutter versprochen, dass sein Sohn (der den gleichen Namen wie sein
gefallener Bruder trägt) „nicht in einem Krieg zwischen europäischen
Staaten sterben wird“. Man kann das sentimental, zuckrig, typisch für jene
schwer erträgliche Selbstbezüglichkeit von Kohl halten. Aber es spiegelt
doch eine generationelle Erfahrung wider.
Schwarz hat zu Recht bemerkt, dass unter den Selbstverständigungsformeln
der Generation Kohl, dass „moderner Krieg die Hölle und vor allem der
Nationalismus des Teufels ist“ andere, verwischte Schriftzeichen verborgen
sind. „Reibt man kräftig, dann entdeckt man Zeilen, fast unlesbar
verlöscht, in denen sich die einstmals so strahlenden Worte „Deutschland“,
„das Reich“ „Volksgemeinschaft“ oder „Wehrmacht“ immer noch ausmach…
lassen“, so der Historiker. Dieses Doppelte spiegelte sich bei Kohl in
einer bösartigen Verachtung für den Pazifismus – und gleichzeitig einer
tiefsitzenden Zivilität, die sich aus finsteren Erinnerung an Bombennächte,
den toten Bruder, den schuldigen Vater und Übungen an der Flak in der
Alpenfestung speiste.
Das Sensorium, über das Schwarz, vier Jahre jünger als Kohl, verfügte,
hatten die politische Linke und die Post-68er eher nicht. Wir sahen nur die
Hülle, die Birne, das Dümmliche, Tumbe, Arrogante und hielten das
Bekenntnis zu Europa für Tünche. Dabei war es biographische Gravur.
Lesen Sie [1][hier] den Nachruf auf Helmut Kohl.
17 Jun 2017
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[1] /Altkanzler-Helmut-Kohl-ist-gestorben/!5421741
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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