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# taz.de -- Sachbuch „Hillbilly-Elegie“: Die letzte Zuflucht der Verlierer
> J. D. Vance erzählt vom Abstieg weißer Arbeiter in den USA, die
> Deklassierung mit Rassismus kompensieren. Es ist auch die Geschichte
> seiner Familie.
Bild: Schwebt davon wie die Träume vieler: Heißluftballonwettbewerb über Mid…
Es gibt wenige Gründe, das Buch eines Mannes in die Hand zu nehmen, der
sich als „modernen Patrioten“ bezeichnet. J. D. Vance tut das in seinem
New-York-Times-Bestseller im Zusammenhang damit, wie der mittlerweile
berühmte weiße Arbeiter in den Vereinigten Staaten tickt.
„Hillbilly-Elegie: Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in
der Krise“ heißt das Buch. Vance stilisiert sich darin zu einem Mann, dem
die Tränen kommen, wenn er Lee Greenwoods kitschige Hymne „Proud to Be an
American“ hört, auf die es doch keine bessere Replik gibt als das schöne
„Proud to Be an Asshole from El Paso“ von Kinky Friedman.
Aber „Hillbilly-Elegie“ von J. D. Vance gehört zu den besten Sachbüchern …
diesem Jahr. Dass der Autor sich erst auf Seite 219 zu den patriotischen
Werten seines Landes bekennt, hätte ich ihm sonst übel genommen. In diesem
Fall muss man dankbar sein, weil man sonst um einen tiefen Blick in die
psychische Struktur des Hillbillys gekommen wäre, die der Autor dem Leser
auf präzise und unterhaltsame Weise nahebringt.
Er kann das so gut, weil er selbst diesem merkwürdigen Menschenschlag
entstammt und in einer Hillbilly-Familie die Hölle durchlaufen hat, die die
meisten Leute zu Verlierern prädestiniert und der zu entkommen es kaum eine
Chance gibt.
Das Buch ist keine soziologische Analyse, und nur hin und wieder zitiert
der Autor eine meistens aufschlussreiche Statistik, die seine Beobachtungen
und Erinnerungen belegen. J. D. Vance beschreibt einfach, wie er als Kind
aufwächst und was er erlebt. Und das, was er erzählt, spricht für sich. Der
Hillbilly ist der Hinterwäldler, der in einer ländlichen, gebirgigen Gegend
wie den Appalachen wohnt, nicht viel zu sagen hat – und wenn, dann in einem
kaum verständlichen Dialekt –, der Whiskey trinkt und schnell zur Waffe
greift. Hier befindet sich das Kernland der Waffenlobby.
## Stolz? Deklassiert!
Viele Menschen zogen in den Siebzigern und Achtzigern auf der Suche nach
Arbeitsplätzen in Industrieregionen. Die Familie des 1984 geborenen J. D.
Vance verschlug es nach Middletown in Ohio und, wie der Name schon sagt, in
eine Gegend, die so austauschbar war wie der Stadtname, den es in fast
allen Bundesstaaten gibt.
Als der Manufacturing Belt zum Rust Belt, also zum verrosteten alten Eisen
wurde, das in besseren Zeiten dort einmal verarbeitet wurde, saßen viele
Menschen, die in solche Städte wie Middletown gezogen waren, fest. Ihre
noch nicht abbezahlten Häuser waren plötzlich nichts mehr wert, woanders
hinzuziehen war nicht mehr so einfach, also blieb man und sah der Erosion
der Stadt zu.
Die sozialen Folgen sind in jeder Beziehung dramatisch, aufschlussreich
aber ist vor allem die psychologische Veränderung, die unter den Einwohnern
solcher Regionen vonstattengeht. Und hier entfaltet das Buch die
Qualitäten, die auch in Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ zu finden
sind. Aus Männern, deren Ethos in einem harten Arbeitstag in der
Stahlindustrie besteht, die daraus ihr Selbstwertgefühl ziehen und die
stolz sind auf die von ihnen geleistete Arbeit und ihre Stellung innerhalb
der Gesellschaft, werden Deklassierte, die jede Arbeit nach kurzer Zeit
wieder hinwerfen, die kapitulieren und, egal in welcher Angelegenheit, dem
Staat die Schuld geben.
## Die Zeit des Umbruchs
Aus dem weißen Arbeiter als Stütze einer funktionierenden Gesellschaft, der
die Demokraten wählte, wird ein durch seine Unzufriedenheit unberechenbar
gewordener Reaktionär und Rassist, ein Wähler von Donald Trump, weil
dieser die Irrationalität ihres Lebens verkörpert und Rache am verhassten
Establishment verspricht. Und selbst wenn diese Rache den eigenen
Untergang bedeutete, würde man noch zu ihm halten, obwohl Trump das
komplette Gegenteil ihrer Interessen vertritt.
In dieser Zeit des Umbruchs ist J. D. Vance aufgewachsen und hat wie ein
Seismograf die kleinen und großen Erschütterungen wahrgenommen, die sich
direkt auf sein Leben auswirkten.
Ihn hätte wahrscheinlich das gleiche Schicksal ereilt wie so viele andere,
wenn ihm „Mamaw“, seine Großmutter, nicht den Halt und die Sicherheit
gegeben hätte, die seine „Mom“ ihm nicht bieten konnte, denn die hatte ein
Drogenproblem und ständig wechselnde Partner, ein Phänomen, das nirgends
sonst auf der Welt so weit verbreitet ist wie in amerikanischen
Arbeiterfamilien. Und die daraus entstehenden Konflikte sind so bizarr,
dass man nur ungläubig den Kopf schütteln kann und sogar lachen muss, weil
solche Geschichten ein Licht auf Personen werfen, auf die Vance nie
verächtlich herabblickt.
So erzählt er, wie auf einer Autofahrt aus nichtigem Anlass ein Streit
zwischen ihm und seiner Mutter eskaliert, wie seine Mutter am Straßenrand
anhält, um ihn zu verprügeln, wie er quer über die Felder zu einem Haus
rennt und die dort in einem Swimmingpool liegende Frau um Hilfe anfleht,
wie die außer Rand und Band geratene Mutter die Tür eintritt, um ihn
herauszuholen, wie die Frau die Polizei anruft, wie Vance schließlich vor
Gericht seine Mutter entlasten muss, damit sie nicht hinter Gitter kommt,
was bedeutet, dass das Schreckensszenario weitergeht. Wie seine Mutter eine
Urinprobe von ihm fordert, weil das Gesundheitsamt ihre Drogenabhängigkeit
überprüfen will. Wie seine Großeltern nach einem Gottesdienst mit
vorgehaltenen Schusswaffen jedes Auto durchsuchen, das den Parkplatz
verlassen will, weil sie glauben, ihr Enkel sei von einem „Perversen“
entführt worden, dabei ist der Enkel nur auf der Kirchenbank eingeschlafen.
## Drogen, Alkohol, Gefängnis
Von dieser Art sind die Episoden, die das Klima aus Familienstreit und
Gewaltexzessen, befeuert vom Alkohol, aufzeigen und deutlich machen, wie
prädestiniert die Karrieren sind, die Menschen in diesem Umfeld
einschlagen: früh Kinder kriegen, Drogen und Alkohol, Gefängnis. Umso
erstaunlicher, dass der Autor es trotzdem geschafft hat, dass er in der
angesehenen Yale University schließlich Jura studierte und inzwischen als
Investor arbeitet. Oder vielleicht doch nicht so erstaunlich, denn er geht,
weil ihm nichts Besseres einfällt, nach der Schule zum Militär.
Der Drill, dem er während der Grundausbildung unterliegt, macht aus dem
übergewichtigen, pummeligen, antriebslosen Jüngling einen Menschen, der
nach seiner Militärzeit weiß, was er will, und der es mit seinem neu
erwachten, angestachelten Ehrgeiz auch schafft. Aus J. D. Vance wird ein
Mann, der ein Ziel vor Augen hat und es schließlich auch erreicht: eine
Familie zu gründen, ein Haus, einen guten Job und eine tolle Frau zu haben,
denn das ist es letztlich, was diesen Menschen offenbar antreibt. Es ist
nicht die Sehnsucht nach mehr Gerechtigkeit, womöglich sogar nach einer
Revolution, sondern es ist home sweet home, weil Leute wie J. D. Vance das
immer vermisst haben.
Das Militär als Erziehungsanstalt und die Familie als Glücksversprechen
war schon immer letzte Zuflucht der Verlierer. Das ist deprimierend, aber
es würde nichts nützen, dieses Phänomen zu ignorieren, denn immerhin haben
zumindest hier diese Institutionen dazu beigetragen, dass sich jemand in
seinem Leben zurechtfindet. Darüber hinaus ist J. D. Vance ein großartiger
Autor, der eindringlich und überzeugend zu beschreiben versteht, wie
verloren und depressiv der deklassierte weiße Arbeiter ist, aber auch wie
wenig er sich unterkriegen lässt.
25 Jun 2017
## AUTOREN
Klaus Bittermann
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