| # taz.de -- Obdachlose Flüchtlinge in Berlin: Asylstatus: prostituiert | |
| > Früher war Ali ein junger Afghane, der Schutz in Deutschland suchte. | |
| > Heute ist er obdachlos, von Heroin abhängig und Stricher. | |
| Bild: Im Dickicht des idyllischen Stadtparks treffen sie sich: Dealer, Fixer, S… | |
| Berlin taz | Spaziergänger essen im Teehaus im Englischen Garten ein Stück | |
| Kuchen, Ali zehrt auf der anderen Seite einer sechsspurigen Straße von | |
| seinem letzten Schuss Heroin. Der junge Mann hat vor dem Gemeindezentrum | |
| der Kaiser-Friedrich-Gedächtnis-Kirche am Rande des Berliner Tiergartens | |
| seine Beine von sich gestreckt. Er schafft es kaum, seine Augenlider | |
| offenzuhalten. Nur wenn sich jemand nähert, hebt der junge Mann den Kopf. | |
| „Hallo“, sagt er wie die Maus zur Schlange. | |
| Ali verkauft seinen Körper, um Heroin zu bekommen. Wenn er Erfolg hat, kann | |
| er für ein paar Stunden herumliegen und seine Schmerzen vergessen. Verlässt | |
| das Gift seinen Körper, sucht er sich neue Schmerzen, um sich mit dem | |
| beschafften Geld wieder betäuben zu können. Es ist ein Kreislauf, bei dem | |
| Stunde um Stunde, Tag für Tag weniger von ihm übrig bleibt. | |
| Der junge Mann hat genug Deutsch gelernt, um zu erzählen, wer er ist. „Ich | |
| bin Ali, 21 Jahre alt, Flüchtling aus Afghanistan.“ Seinen vollen Namen | |
| möchte er nicht nennen. Stattdessen sagt er: „Ich komme in den Tiergarten | |
| für Sex.“ | |
| Das Heroin macht Ali matt. Die deutschen Wörter, die beschreiben könnten, | |
| warum er im Tiergarten gelandet ist, fallen ihm nicht ein. Er schiebt die | |
| Hände vor sein Gesicht, als bräuchte er ein Schutzschild zwischen sich und | |
| den vielen Fragen. Noch ein Versuch: Ob im Islam seine Sucht und die Art, | |
| wie er sie finanziert, nicht haram sei, Sünde? Statt zu antworten, rollt | |
| Ali die Ärmel seines schwarzen Hemds auf. Seine Arme sind mit Narben und | |
| Schorfkratern übersät. Gott hat ihn doch schon bestraft. | |
| Es gibt verschiedene Ansichten darüber, wer die jungen Männer sind, die | |
| sich in Berlins Stadtparks prostituieren. Das zuständige Landesamt für | |
| Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) teilt mit, es handle sich um eine Gruppe | |
| erwachsener Männer, die nach Berlin gekommen seien, weil ihr Asylantrag | |
| anderswo abgelehnt wurde. Das Bezirksamt Mitte schreibt auf Anfrage, dass | |
| es mit einem eigenen Projekt versucht, den asyl- und sozialrechtlichen | |
| Status der jungen Männer zu klären. Eindeutig ist die Sache aus Sicht des | |
| Bezirksamts also nicht. | |
| ## Salafisten rekrutieren Verlorengegangene | |
| Die Sachlage wird nicht einfacher, wenn Wolfram Geisenheyner und Kaja | |
| Grabowski ihre Sicht darstellen. Sie betreiben das Evangelische Klubheim | |
| für Berufstätige in Moabit, das nördlich des Stadtparks liegt, in einem mit | |
| Stuck verzierten Altbau. Bis Ende Februar gingen hier auch Salafisten ein | |
| und aus. | |
| Der islamische Verein Fussilet 33 unterhielt im demselben Gebäude eine | |
| Moschee. Ein Sonderkommando der Polizei hatte die Räume im Dezember 2016 | |
| auf der Jagd nach dem Terroristen Anis Amri durchsucht, die Stadtverwaltung | |
| den Verein schließlich verboten. So endet eine Nachbarschaft mit den | |
| Salafisten, die den Helfern vom Evangelischen Klubheim Kopfzerbrechen | |
| bereitet hat. | |
| Es begann damals in den Monaten, in denen Bilder von den Menschenschlangen | |
| vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) durch die Medien | |
| gingen. Geisenheyner und Grabowski öffneten damals immer wieder ihr Büro, | |
| Nachts, damit Flüchtlinge dort übernachten konnten, wenn sie keine andere | |
| Unterkunft fanden. Die Männer aus der Moschee beschimpften die beiden | |
| Helfer. „Na, geht ihr wieder den Verrätern am Dschihad helfen, solche | |
| Sachen“, sagt Kaja Grabowski. Den Flüchtlingen warfen sie vor, sich in | |
| ihren Heimatländern nicht der Terrormiliz IS angeschlossen zu haben. | |
| Den Geflüchteten sind die Salafisten aber nicht feindlich begegnet. „Für | |
| uns ist klar gewesen, dass die rekrutieren wollten“, sagt Grabowski. Ein | |
| Dilemma. „Wir mussten abends irgendwann nach Hause und konnten die | |
| Flüchtlinge nicht einfach einschließen“, sagt Grabowski. Keiner hatte | |
| Überblick, wer in den Abend- und Nachtstunden bei den Flüchtlingen im Büro | |
| ein- und ausging. | |
| ## Schlafplatz gegen Sex | |
| Es ist die Zeit, in der überall in Deutschland der Überblick fehlte, erst | |
| Recht in der Berliner Verwaltung. Die Behörden waren dazu übergegangen, das | |
| Alter unbegleiteter Flüchtlinge nachträglich noch einmal zu überprüfen. Wer | |
| ohne Papiere kam und entgegen eigener Aussage für volljährig befunden | |
| wurde, hätte seinen Platz in den Unterkünften für Minderjährige oft | |
| innerhalb eines Tages räumen müssen, sagt Grabowski. Sie wurden dann zurück | |
| zum zuständigen Amt geschickt, um ein Bett in einer Erwachsenenunterkunft | |
| zu erbitten. „Da standen sie dann erst einmal in der Schlange“, sagt | |
| Wolfram Geysenheiner. Als es Winter wurde, kamen abends immer öfter junge | |
| Flüchtlinge zum Büro der Jugendhilfe. | |
| Die Sozialpädagogen sind nicht die Einzigen, denen die obdachlosen jungen | |
| Männer auffallen. Grabowski sagt, es seien drei Sorten von Menschen | |
| gewesen, die um das Lageso herumschlichen wie Füchse um einen Hühnerstall. | |
| Drogendealer, Salafisten und Männer, die ihr Bett anboten – und dafür Sex | |
| forderten. | |
| Von der Behörde ist es nicht weit in den Tiergarten. Geysenheiner erzählt, | |
| wie Flüchtlinge ihren Weg dorthin gefunden haben. So wie der Afghane, der | |
| im Herbst 2015 aus einer Unterkunft ausgewiesen worden war und wochenlang | |
| unter einem Balkon schlief. Dort boten ihm dann ältere Landsleute Heroin | |
| an. „Er ist bei einer Freiwilligen untergekommen und hat einen kalten | |
| Entzug gemacht“, sagt Geysenheiner. Inzwischen ist der Mann wieder im | |
| Tiergarten. | |
| Der Turm der Kaiser-Friedrich-Gedächtnis-Kirche ragt wie ein Skelett aus | |
| Beton in die Höhe. Dort, neben der Wiese, auf der sich die Süchtigen ihre | |
| Spritzen setzen, buddeln Kinder im Sand eines Spielplatzes. Die Fixer mit | |
| ihren Nadeln lassen sich hier nicht mehr ignorieren. Andernorts schon. Der | |
| Strich im Tiergarten, die Freier, die sich hier für nur 30 Euro im Gebüsch | |
| befriedigen lassen, sind nur ein Ausschnitt der Szene. Grabowski schätzt, | |
| dass 1.000 Flüchtlinge in Berlin ohne Obdach leben. Wo sie geblieben sind? | |
| Grabowski und Geysenheiner sind überzeugt davon, dass die Männer eine | |
| Antwort wüssten, die den jungen Flüchtlingen vor dem Lageso so freundlich | |
| begegnet sind. | |
| In den Schilderungen der Helfer des Evangelischen Klubheims hat die | |
| Verwaltung in einer Krise versagt und möchte es bis heute nicht zugeben. | |
| Bei den Berliner Behörden ruft die Bitte um eine Stellungnahme Erstaunen | |
| hervor. „Was trauen die uns eigentlich noch alles zu?“, sagt die Sprecherin | |
| der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, Iris Brennberger. | |
| Verwaltung übernimmt Verantwortung nicht | |
| Auf die Fragen antworten will Brennberger dann aber nur schriftlich. | |
| Zwischen den Buchstaben soll kein Raum für Interpretationen bleiben. Sie | |
| bezeichnet es als bedrückend, dass im Tiergarten eine Szene entstanden ist. | |
| Eine Lücke in der Unterbringung habe es aber nicht gegeben, schreibt sie. | |
| Personen, die sich bei den Altersuntersuchungen als volljährig | |
| herausgestellt haben, sei mithilfe eines Sprachvermittlers erklärt worden, | |
| wie sie zum Lageso finden. Bis zu einem Behördentermin hätten die jungen | |
| Männer in den Unterkünften für Minderjährige verbleiben können. | |
| Anders ausgedrückt müssen die Flüchtlingshelfer vom Evangelischen Klubheim | |
| ihre Erlebnisse vor dem Lageso erfunden haben. Auch der Sprecher des | |
| Landesamts für Flüchtlinge, Sascha Langenbach, erklärt sich in einer Mail. | |
| Er ruft die Helfer auf, Flüchtlinge namentlich zu nennen, die aus einer | |
| Unterkunft für Minderjährige ausgewiesen worden sind und keine Hilfe | |
| bekommen haben. Geysenheiner wiederum sagt: „Wir haben die Fälle, in denen | |
| es Wochen dauerte, bis Flüchtlinge einen neuen Platz zugewiesen bekamen, | |
| den Berliner Staatssekretären Dieter Glietsch und Dirk Gerstle gemeldet.“ | |
| In Berlin scheint es in der einen Welt böswillige Behörden zu geben und in | |
| der anderen Flüchtlingshelfer, die Lügen verbreiten. Irgendwo dazwischen | |
| liegt der Tiergarten. | |
| Seit März kümmert sich ein Verein im Auftrag des Bezirks darum, die Männer | |
| zu beraten, Suchthelfer kommen einmal pro Woche in den Park, auch eine | |
| afghanische Organisation soll bald eingebunden werden. Vorerst bis | |
| September. | |
| Ali versucht, etwas zu sagen, aber sein Deutsch reicht einfach nicht aus. | |
| Er ruft nach Nourid. Ein Junge stapft in sauberer Kleidung und Sneakern von | |
| der Wiese hinter der Kirche zu Ali herüber. Er trägt wie die Hipster in | |
| Kreuzberg einen Stoffbeutel auf dem Rücken. Nourid sieht jünger aus als | |
| Ali. Keine entzündeten Augen, kein verfilztes Haar, wo immer er seine | |
| Nächte verbringt, scheint es Duschen zu geben und erholsamen Schlaf. Er | |
| wirkt clean. | |
| Ali redet auf Nourid in seiner Sprache eine Weile ein. Doch was immer Ali | |
| ihm erzählt, Nourid übersetzt es in eine knappe Aufforderung: „Ali wünscht, | |
| dass Sie ihn in Ruhe lassen.“ Nourid zieht ein Taschenmesser aus seiner | |
| Hosentasche und lässt es aufschnappen. Dann holt er aus dem Beutel eine | |
| Melone hervor, schneidet ein Stück ab, drückt es dem Fremden in die Hand. | |
| Sein Gesichtsausdruck ist entschieden. Wer verstehen will, warum Ali die | |
| Dinge tut, die er tut, geht hier ratlos davon. | |
| 24 Jun 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Cedric Rehman | |
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