# taz.de -- Kolumne Fast Italien: Die Straßenbahn, meine Muse | |
> Wo Liebende lümmelnd ineinander verhakt Luftnot verbreiten – da sind die | |
> Geschichten zu Hause. In München also, in der Tram. | |
Bild: Blau-weiß ist sie schon mal, die Tram. In diesem Bild allerdings aus Zü… | |
Ich soll eine Kolumne schreiben. Kein Problem, denke ich und verlasse mich | |
ganz auf meine Muse: Die Straßenbahn. Sie knutscht mich ab, wenn die | |
Fahrgäste der Öffentlichkeit ihr Innerstes offenbaren, und ich den Priester | |
spielen darf. Ich schreibe alles nieder, was sie kundtun. Ich muss die | |
Beichte nicht für mich behalten. Ich bin frei. | |
Ich zünde mir eine Zigarette an, gehe Richtung Haltestelle. Es ist 23:03 | |
Uhr. Die Muse hält. | |
Ein Vierjähriger brüllt. Einige Fahrgäste mokieren sich. Die Mutter wird | |
zur Furie. Wissen sie, was es heißt einen Hochbegabten zu erziehen? giftet | |
sie und zerrt ihren Sohn bei der nächsten Station aus der Tram wie eine | |
flatternde Fahne. | |
Ich fahre bis zur Endhaltestelle, ohne dass etwas geschieht. Steige aus, | |
rauche eine Zigarette, warte auf die nächste Tram. Sie kommt mit | |
Verspätung. Es ist 23:47 Uhr. Ich drücke die Zigarette aus. | |
Fünf aus der Zeit gefallene Existenzen fläzen in ihren Sitzen. Einer lallt | |
leise, hebt ein Bein, verbreitet Luftnot. Das Bein kracht auf den Boden wie | |
eine unverständliche Ansage, und die anderen schnorcheln lümmelnd | |
ineinander verhakt wie Liebende. Drei Sätze. Drei Sätze sind keine Kolumne. | |
Ich steige aus. | |
Die Tram verspätet sich. Es ist 24:07 Uhr. | |
Zurück Richtung Innenstadt. Man steht sich auf den Füßen. Ein Guide mit | |
einer roten Fahne zeigt japanischen Touristen München bei Nacht. Kurz vor | |
der fünften Haltestelle hält er die Fahne gegen die Decke. Die | |
Guide-Trillerpfeife schrillt. Die Japaner folgen dem Führer nach draußen. | |
Danach sind kaum mehr Passagiere an Bord. Sie dösen oder starren in die | |
Leere. Bis auf die Ansagen herrscht Stille. Es ist 1:33 Uhr. Ich gähne beim | |
Einsteigen in die nächste Tram, schlafe ein. Der Fahrer weckt mich um 2:15 | |
Uhr. | |
3:29 Uhr. Ich fahre Richtung Maxvorstadt, wo ich wohne. Mir gegenüber sitzt | |
eine Frau. Sie lächelt mich an. Ich bin Raucher, habe aber meine Zähne | |
kürzlich professionell reinigen lassen. Ich lächle zurück, frage: Darf ich | |
ihren Namen wissen. Sie sieht mich streng an, sagt: Fängt mit K. an. | |
Ich freue mich über dieses Rätsel. | |
Ein paar Plätze weiter sagt eine andere Frau: Lassen sie das! | |
K. und ich reagieren, sehe einen alten Mann, der vor der anderen Frau | |
masturbiert. K. geht zum Fahrer, ich stelle mich zwischen den Alten und die | |
Frau. Die Tram fährt durch bis zur übernächsten Haltestelle. Dort wartet | |
die Polizei und nimmt den Alten mit. | |
Wir trinken zu dritt Wein in einem zeitlich illegal geöffneten | |
Stehausschank. Mit K. gehe ich später nach Hause einen Kaffee trinken. | |
Ich muss in einer Stunde eine Kolumne mailen. Hab keine, sage ich und nippe | |
am Kaffee. | |
Worum soll’s denn gehen? fragt K. | |
Keine Ahnung. Ist ja nichts passiert, sage ich. | |
Dann schreib das auf, sagt sie. | |
28 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Max König | |
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