| # taz.de -- Kolumne Herbstzeitlos: Auf die Pflanze gekommen | |
| > Erst kommen alle auf Kinder und der Rest kommt dann auf den Hund. Ich bin | |
| > davongekommen – und renne mit der Gießkanne herum. | |
| Bild: Das Paradies ist tatsächlich gleich nebenan, und es gibt immer was zu tun | |
| Auf dem kleinen Balkon in Berlin-Neukölln versammeln sich, von links nach | |
| rechts durchgezählt, folgende Gewächse: ein übrig gebliebener | |
| Weihnachtsstern vom letzten Jahr, drei Rosenbüsche, eine pink blühende | |
| Begonie, wilder Majoran aus Rehberge, eine weiße Buschrose, eine | |
| Sonnenblume, Lavendel, Rosmarin und – rankbereit in der Nähe des | |
| Regenabwasserrohrs untergebracht – die „Schwarzäugige Susanna“, die ich … | |
| einem Tag der Offenen Tür einer Gartenlehrwerkstatt für psychisch Kranke | |
| erworben habe. | |
| Vor ungefähr fünf Jahren, nach einer Trennung, ging es mir auch nicht | |
| besonders gut. Die Pflanzkästen auf dem Balkon dienten ausschließlich als | |
| Aschenbecher. Das ging so lange, bis es eines Tages zu einem Aufsehen | |
| erregenden Torfbrand kam und ein guter Freund mit einem ausgeglicheneren | |
| Verhältnis zur Welt sich meiner annahm: An seinem freien Tag kam er | |
| angebraust, den Kofferraum voller Pflanzen, Pflanzerde sowie einer Flasche | |
| Champagner. | |
| Rauchend und Champagner in mich hinein kippend sah ich dabei zu, wie er | |
| Erika und ein silbrig schimmerndes Gewächs nebeneinander in die dunkle Erde | |
| fügte. Völlig unfähig, selbst Hand anzulegen. Das Gewächs war farblich | |
| harmonisch und pflegeleicht angelegt, also sogar für mich gut zu handhaben. | |
| Die Bepflanzung war therapeutisch gemeint, und ich konnte das sogar „gut | |
| annehmen“. Heißt, ich goss die in straffer Ordnung stehenden Pflanzen auf | |
| dem Balkon tatsächlich regelmäßig und unterließ es von nun an, meine | |
| Zigaretten dort auszudrücken. | |
| Einen ganzen Sommer lang passte ich gut auf. Dann kam der Winter, und als | |
| er vorbei war, war wieder Wüste auf dem Balkon, und das blieb auch noch | |
| eine ganze Weile so. Es wurde wieder geraucht, geascht und ausgedrückt. | |
| ## Bezupft, gestreichelt, beschnuppert, bewundert | |
| Heute ist das Rauchen nun eingestellt, und in den Kästen blüht es | |
| kunterbunt und durcheinander. Kommt eine Laus, wird ihr mit Hilfe | |
| ökologischer Kampfstoffe der Garaus gemacht, und es ist immer genug Wasser | |
| für alle da. Es gibt einen Plaste-Flamingo mit Propeller, eine grüne | |
| Gießkanne und eine Rosenschere. Die schwarzäugige Susanna wird bezupft und | |
| gestreichelt, der Lavendel beschnuppert und die Rosen bewundert. | |
| Während in meinem Ü40-Freundeskreis immer mehr Menschen verzweifelt auf den | |
| Hund kommen – also zumindest jene, die nicht schon auf Kinder gekommen sind | |
| – renne ich mit der Ikea-Gießkanne herum und zupfe Blättchen. Ich bin auf | |
| die Pflanze gekommen! | |
| Gut nur, dass es in meinem Leben nicht nur die „schwarzäugige Susanna“ | |
| gibt, sondern auch noch meinen Boyfriend, der beim Gießen, bezupfen, | |
| streicheln, beschnuppern und bewundern tatkräftig hilft. Sonst müsste man | |
| sich womöglich doch wieder Sorgen machen um mein seelisches Befinden. | |
| Kein Tabakaqualm mehr und keine Depression. Die Hummeln und die Bienchen | |
| summen, der Flamingopropeller rattert. Das Paradies ist tatsächlich gleich | |
| nebenan, und es gibt immer was zu tun – doch leider, so fand ich just | |
| heraus, sind die alten Pflanzkästen allesamt aus Asbest. Und jetzt? | |
| 1 Jun 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Martin Reichert | |
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