| # taz.de -- Kolumne „Fast Italien“: Straßenlandung | |
| > Die reiche Stadt München schließt viele Menschen aus. Sich ihnen zu | |
| > nähern, statt vorbeizuhetzen, kann herausfordernd sein. | |
| Bild: Sie hat abgeschlossen mit uns Menschen: Eine obdachlose Frau sitzt mit ih… | |
| Die Frau sehe ich fast täglich. Ich kann sie nicht fragen, wie’s kam. Hab’s | |
| versucht. Bin stets gescheitert, was an der Distanz lag. Ich muss | |
| mindestens fünf Meter Abstand halten, einen Schritt näher und ich müsste | |
| mich übergeben. Ich meine das nicht despektierlich. Ich bin ein | |
| Geruchshysteriker, kann Gestank nicht ertragen. Selbst das | |
| Müllbeutelentsorgen im Tonnenhäuschen bereitet mir große Probleme. Ganz zu | |
| schweigen von öffentlichen Toiletten. | |
| Ich würde die Frau gerne einladen, ihr ein Essen kredenzen. Sie ist etwas | |
| Besonderes, ihre Augen verraten es. Es gibt in München zig Obdachlose. Wenn | |
| ich einen Freund in Schwabing besuche, er wohnt Ecke Leopold-/Kaiserstraße, | |
| begegne ich auf knappen hundert Metern dreien davon. Einer Frau um die | |
| dreißig, die jedem einen guten Tag wünscht, auch wenn kein Groschen in | |
| ihren Becher fällt. | |
| Einem Alten, der seine Weisheiten unvermittelt den Passanten mitteilt, und | |
| einem etwa Vierzigjährigen, der noch nicht lange ums Überleben bettelt und | |
| sich verschämt in seinem Schlafsack verkriecht. Auch deren Schicksale gehen | |
| nahe. Aber mit ihnen kann man reden oder ihnen etwas geben. Dieser Frau | |
| kann man nichts anbieten. Sie bettelt auch nicht, trägt kein Schild vor der | |
| Brust. | |
| Sie sitzt stoisch da und starrt den Boden an, auf dem die Leute mit | |
| gerümpfter Nase an ihr vorbeihetzen. Manchmal liest sie auch eine | |
| zerknitterte Zeitung, als hätte sie noch ein Interesse an der Welt. Sie ist | |
| stark. Ich bin schwach, meide einen Menschen, weil ich ihn nicht riechen | |
| kann. Ich glaube, dass sie dieses olfaktorische Minenfeld absichtlich | |
| gelegt hat. Es dient als eine Art Schutzschild gegen jegliche Annäherung. | |
| ## Ihr Erscheinungsbild ist heute ihr einziger Makel | |
| Sie hat abgeschlossen mit uns Menschen. Auch dafür bewundere ich sie, für | |
| diese absolute Misanthropie. Ein stolzer Thomas Bernhard der Straße. Ich | |
| stelle mir vor, dass sie einmal hübsch war. Dass sie ein Deckelchen hätte | |
| sein können. Oder war der Topf der Auslöser für ihre Straßenlandung? | |
| Heute ist ihr Erscheinungsbild ein einziger Makel. Nicht einmal die Polizei | |
| tritt ihr zu nahe, obwohl sie allein durch ihre ständige Anwesenheit das | |
| Gesetz bricht. Im Sommer fährt sie Straßenbahn. Sie steigt am Stachus in | |
| die 16er, fährt durchs Glockenbachviertel zum Isartor, am Deutschen Museum | |
| vorbei, über die Ludwigsbrücke Richtung Bogenhausen. Bin einmal mit ihr | |
| gefahren. Sie saß hinten, ich ganz vorne, die Fenster waren alle gekippt, | |
| wir waren fast unter uns. | |
| Sie hat Geschmack. Es ist die schönste Strecke, die München bietet. Im | |
| Winter hält sie sich im U-Bahn-Untergeschoss warm, starrt auf den Boden, | |
| fixiert einen bestimmten Punkt, ihren Mikrokosmos. Die Leute hetzen mit | |
| überquellenden Dallmayr-Tüten an ihr vorüber und rümpfen die Nase. Ich | |
| stehe im nötigen Abstand vor ihr. Fühle mich als Arschloch. Gehe einen | |
| Schritt in ihre Richtung. Zögere. Gehe weiter. Sie blickt auf. Ich gebe ihr | |
| eine Zeitung, zwei belegte Semmeln, einen Kaffee. | |
| Ich atme nicht, ich rede nicht. Ihre Augen sind graublau. | |
| 13 Apr 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Max König | |
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