# taz.de -- Fehlbildungen durch Duogynon: Dramatische Nebenwirkungen | |
> Ein schottischer Biologe untersucht die schädigende Wirkung des einstigen | |
> Schwangerschaftstests Duogynon. Er stammt von der Pharmafirma Schering. | |
Bild: Neil Vargesson, Professor der Biologie, in seinem Labor an der schottisch… | |
Sie wurden geboren mit offenem Rücken, mit Herzfehlern und mit | |
Hirnschädigungen, mit verkürzten oder fehlenden Gliedmaßen, mit | |
deformierten Därmen, Harnblasen oder Genitalien. Die Schuld für die | |
Fehlbildungen, unter denen Hunderte Deutsche und Briten, die zwischen | |
Anfang der 1950er und Mitte der 1970er Jahre geboren wurden, noch heute als | |
Erwachsene leiden, geben sie einem ehemaligen Medikament der Berliner | |
Pharmafirma Schering. | |
Ihre Mütter hatten es zu Beginn ihrer Schwangerschaft von ihren Ärzten | |
bekommen, um festzustellen, ob sie wirklich ein Kind erwarteten: Duogynon | |
hieß das Mittel in Deutschland, Primodos in Großbritannien. Der Inhalt, | |
eine Kombination auf Basis der weiblichen Geschlechtshormone Gestagen und | |
Östrogen, war derselbe; er konnte geschluckt oder gespritzt werden und war | |
geeignet, eine Regelblutung auszulösen. | |
Setzte die Menstruation trotz des Hormonschockers nicht ein, galt die Frau | |
als schwanger. Urinteststreifen hatten sich damals noch nicht durchgesetzt. | |
Erstmals nun könnte der schwere Verdacht, der auf dem Präparat von einst | |
lastet, systematisch von unabhängigen Experten und auf dem heutigen Stand | |
der Wissenschaft überprüft werden: Neil Vargesson, Professor für Biologie | |
an der schottischen Universität Aberdeen und seit vielen Jahren in der | |
Forschung zu embryonalen Fehlbildungen durch Arzneimittel tätig, hat mit | |
einem Team seiner Fakultät den Duogynon-Primodos-Wirkstoff nachgebaut und | |
im Labor bereits an Zebrafisch-Embryonen auf seine fruchtschädigende | |
Wirkung getestet. | |
Die Eindeutigkeit der Ergebnisse, sagte Vargesson der taz, habe ihn selbst | |
überrascht: „Wir konnten nachweisen, dass Primodos die Fisch-Embryonen | |
tatsächlich schädigt, und zwar abhängig sowohl vom Stadium der embryonalen | |
Entwicklung als auch von seiner Dosierung.“ | |
## Noch fehlt der Nachweis | |
Bislang gab es Indizien, aber keinen Nachweis für einen kausalen | |
Zusammenhang zwischen der Einnahme von Duogynon und den Fehlbildungen. Zum | |
einen, weil entsprechende klinische Studien in den 1950er Jahren, als | |
Schering das Medikament auf den Markt brachte, gar nicht vorgeschrieben | |
waren oder in einer Weise durchgeführt wurden, aus der sich keine Evidenz | |
ableiten ließ. Zum anderen wird Duogynon seit bald 40 Jahren gar nicht mehr | |
hergestellt, sodass auch Folgestudien seitens der Pharmaindustrie | |
unterblieben. Schering wurde schließlich 2006 von der Bayer AG übernommen, | |
und diese schließt Duogynon kategorisch „als Ursache für embryonale | |
Missbildungen aus“. | |
Den genauen Wirkmechanismus von Primodos/Duogynon auf die Zebrafische kenne | |
man zwar noch nicht, sagt Vargesson, es gebe aber Hinweise, dass das | |
jeweilige Entwicklungsstadium der Blutgefäße und der Nerven eine | |
Schlüsselrolle bei Art und Umfang der embryonalen Schädigungen spielen. | |
„Wir konnten vergrößerte Herzen, offene Rücken, geschädigte Blutzellen und | |
Schäden am Nervensystem erkennen.“ | |
Aus diesen ersten Ergebnissen allerdings Rückschlüsse auf mögliche | |
Schädigungen bei menschlichen Embryonen ziehen zu wollen, sei nicht bloß | |
verfrüht, sondern unseriös, warnt Vargesson: „Ich schätze, dass wir noch | |
mindestens drei bis fünf Jahre im Labor und an sehr unterschiedlichen | |
Tieren werden forschen müssen, um sicher sagen zu können, ob es einen | |
kausalen Zusammenhang zwischen der Einnahme und den Fehlbildungen gibt.“ | |
Zebrafische, deren Embryonalentwicklung derjenigen höherer Wirbeltiere | |
ähnelt und die sich komplett und sehr schnell außerhalb des Mutterleibs | |
entwickeln, seien für Biologen zwar ein wichtiger Modellorganismus. Weitere | |
Versuche an Nagetieren, Fischen und auch Schafen seien aber unerlässlich, | |
um gesicherte Aussagen treffen zu können. Die Forschung an schwangeren | |
Frauen verbiete sich aus ethischen Gründen. | |
Und, fügt Vargesson hinzu: „Man muss immer wieder betonen, dass es so etwas | |
wie eine natürliche Fehlbildungsrate gibt. Drei Prozent aller Neugeborenen | |
kommen mit Fehlbildungen zur Welt, ohne dass hierfür erkennbare Ursachen | |
vorliegen.“ | |
## Neue Hoffnungen | |
Für die mutmaßlichen Duogynon-Opfer, die in Großbritannien und auch in | |
Deutschland als Selbsthilfegruppen bislang vergeblich um die Anerkennung | |
ihres Leids durch Regierungen und Parlamente und für einen | |
Entschädigungsfonds nach dem Vorbild der Stiftung für Contergan-Geschädigte | |
kämpfen, ist der Forschungsansatz von Neil Vargesson dennoch eine neue, | |
große Hoffnung. Ob und wie schnell belastbare Ergebnisse vorliegen werden, | |
ist jedoch auch eine Frage der Finanzierung. Das britische Parlament, das | |
seit eineinhalb Jahren in einem Untersuchungsausschuss | |
medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse zu Duogynon überprüft, hat den | |
schottischen Biologen neulich immerhin zu einer Sitzung eingeladen. | |
Konkrete Finanzzusagen gab es bislang nicht. | |
„Es ist ja auch ungewöhnlich, ein Medikament erforschen zu wollen, das es | |
gar nicht mehr gibt“, räumt Vargesson ein. Seine Aufmerksamkeit für | |
Duogynon, sagt der Wissenschaftler, entstand zufällig, quasi als | |
Nebenprodukt seines eigentlichen Forschungsinteresses. | |
Das richtet sich seit vielen Jahren auf Contergan und auf die Frage, wie | |
man das Arzneimittel, das Schwangeren in den 1960er Jahren gegen die | |
morgendliche Übelkeit empfohlen wurde und damit den größten | |
Arzneimittelskandal des vergangenen Jahrhunderts auslöste, molekular so | |
verändern könnte, dass es in der Medizin weiterhin eingesetzt werden kann, | |
ohne Ungeborenen im Mutterleib zu schaden. Denn Contergan ist bis heute von | |
großem therapeutischen Interesse und Nutzen, sagt Vargesson, etwa zur | |
Behandlung von Lepra sowie bestimmter Krebsarten der Plasmazellen. | |
## Noch offene Fragen bei Contergan | |
Allein: Auch bei Contergan ist trotz jahrelanger, intensiver Forschung | |
immer noch unklar, wie die Bausteine des Medikaments genau die | |
Fehlbildungen verursachen. | |
Vargesson forscht hierzu, er will wissen, auf welche Moleküle er ganz | |
verzichten muss, welche er wie verändern könnte und welche er austauschen | |
sollte, um das Mittel sicher und dennoch medizinisch nutzbar zu machen. | |
Mehrere erfolgversprechende Varianten eines leicht veränderten Contergans | |
hat Vargesson unlängst patentieren lassen. | |
„Und als ich dann hörte, dass ein weiteres Medikament möglicherweise | |
ebenfalls Fehlbildungen bei Ungeborenen hervorgerufen hat, da musste ich | |
mir die Sache einfach näher ansehen.“ Ob und wie es weitergeht, wird vor | |
allem von finanziellen Entscheidungen abhängen. | |
Vargesson ist optimistisch: „Bestimmte Stoffe, die in Duogynon enthalten | |
waren, finden sich heute noch in veränderter Form in Antibabypillen. Da | |
sollte es schon ein Interesse geben, mögliche unerwünschte Nebenwirkungen | |
genauestens zu erforschen.“ | |
2 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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