# taz.de -- Fehlbildungen bei Babys: Ein Test und seine Folgen | |
> Wusste ein deutscher Pharmakonzern frühzeitig von der schädigenden | |
> Wirkung seines Präparats? Die Bayer AG streitet alle Vorwürfe ab. | |
Bild: Marie und Michael Lyon wollen Gewissheit. | |
BERLIN taz | Über Jahre glaubte Marie Lyon, es liege an ihr, ihr und ihren | |
Genen, dass ihre Tochter Sarah im Oktober 1970 mit nur einem halben linken | |
Arm zur Welt gekommen war – Sarahs Finger wuchsen am Ellbogen heraus, der | |
Unterarm und die Hand fehlten. „Es waren schreckliche Vorwürfe, die ich mir | |
gemacht habe“, erinnert sich die heute 69 Jahre alte Engländerin. | |
Sie sitzt in einem Berliner Hotelzimmer, eine blond gefärbte, elegant | |
gekleidete Frau, deren Stimme auch dann unaufgeregt bleibt, wenn es um sehr | |
persönliche Fragen geht. Fragen, auf deren Beantwortung sie seit | |
Jahrzehnten vergeblich wartet: Warum mein Kind? Und vor allem: Warum | |
übernimmt bis heute niemand Verantwortung? | |
Es ist ein sonniger Tag in der deutschen Hauptstadt, vor Marie Lyon steht | |
ein Aktenordner. Darin: Kopien vergilbter Schriftwechsel aus den 60er | |
Jahren zwischen Mitarbeitern des ehemaligen Pharmaherstellers Schering aus | |
Berlin und britischen Wissenschaftlern – sowie Protokolle über | |
tierexperimentelle Prüfungen, ebenfalls bald 50 Jahre alt. | |
Es geht um die Risiken eines einzigen Medikaments, genauer gesagt eines | |
hormonellen Schwangerschaftstests: Der hieß in Deutschland Duogynon und in | |
England Primodos, und Marie Lyon gibt ihm heute die Schuld für das Leid | |
ihrer Tochter: „Den durchschlagenden Beweis haben wir noch nicht gefunden“, | |
sagt sie. „Aber wir haben auch noch 20 Ordner unausgewerteter Akten vor | |
uns.“ | |
Deswegen ist sie mit ihrem Mann Michael Lyon nach Berlin gereist. In die | |
Stadt also, in der der – längst vom Markt genommene – Hormontest seinerzeit | |
von der Firma Schering erfunden wurde. Beim Berliner Landesarchiv hat Marie | |
Lyon – als Mutter eines mutmaßlich medikamentengeschädigten Kindes – | |
erfolgreich „Antrag auf Benutzung von fristgeschütztem Archivgut“ gestellt. | |
Das Material, das sie, ihr Mann und Mitglieder einer | |
Duogynon-Selbsthilfegruppe aus Deutschland dieser Tage sichten, stammt | |
hauptsächlich aus einem 1980 in Berlin eingestellten strafrechtlichen | |
Ermittlungsverfahren gegen den Pharmakonzern; für die allgemeine | |
Öffentlichkeit ist es noch unzugänglich. | |
## Tausende Babys mit Fehlbildungen | |
Die Lyons und ihre Mitstreiter sind guter Dinge, Indizien zu finden. | |
Indizien, die darauf hinweisen könnten, dass Pharmahersteller, Forscher und | |
Gesundheitsbehörden in Deutschland wie in Großbritannien bereits in den | |
60er Jahren wussten von den gesundheitlichen Risiken und von der | |
fruchtschädigenden Wirkung, die von dem Medikament ausgingen – und es | |
dennoch weitere Jahre am Markt ließen. | |
Marie Lyon war, als ihre Tochter Sarah 1970 geboren wurde, nicht die | |
Einzige, die rätselte, weshalb sie ein Kind mit Missbildungen bekommen | |
hatte –mehrere Tausend Babys wurden in Großbritannien, Deutschland und | |
anderen europäischen Ländern mit körperlichen Fehlbildungen in den 60er und | |
70er Jahren geboren. Offene Rücken, Herzschäden, missgebildete innere | |
Organe, Hirnschädigungen – die Beeinträchtigungen waren erheblich. | |
Acht Jahre nach der Geburt ihrer Tochter erfuhr Marie Lyon immerhin durch | |
den Telefonanruf einer Selbsthilfegruppe, dass sie und viele andere Frauen | |
mit geschädigten Kindern, mit denen sie sich inzwischen vernetzt hatte, | |
eine Gemeinsamkeit hatten: Alle hatten zu Beginn ihrer Schwangerschaft von | |
ihren Ärzten das Hormonpräparat Primodos bekommen – als oralen | |
Schwangerschaftstest. Alle sagten, dass sie vor der Einnahme keine Hinweise | |
auf etwaige Risiken für die Ungeborenen erhielten. | |
Der ungeheuerliche Verdacht, der sich seither gegen die Firma Schering | |
beziehungsweise die Bayer AG als deren Nachfolgerin richtet, hat ab Anfang | |
der 1980er Jahre in Deutschland wie in Großbritannien zu strafrechtlichen | |
Ermittlungen und Zivilprozessen geführt – alle jedoch wurden eingestellt | |
oder von den Klägern aus Gründen der Verjährung verloren. In Deutschland | |
hatte zuletzt ab 2010 der bayerische Grundschullehrer André Sommer, der | |
1976 mit schweren Missbildungen geboren wurde und dessen Mutter in der | |
Schwangerschaft Duogynon eingenommen hatte, auf Akteneinsicht geklagt – | |
erfolglos. | |
Jetzt aber gibt es neue Hoffnung: Der britische Premierminister David | |
Cameron hat zugesagt, den Fall Primodos/Duogynon ganz neu untersuchen zu | |
lassen. Am 7. Oktober werden die Repräsentanten der britischen | |
Arzneimittelbehörde Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency | |
(MHRA) und die Mitglieder des parlamentarischen Gesundheitsausschusses ihre | |
Arbeit offiziell aufnehmen. | |
## Zusammenhang untersuchen | |
Konkret sollen die Experten die medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse | |
über die Einnahme von Primodos und die seinerzeit diskutierten embryonalen | |
Missbildungen überprüfen. Daneben soll der Ausschuss Hinweise zu einem | |
möglichen Zusammenhang zwischen Hormontests während der Schwangerschaft und | |
angeborenen Missbildungen bei Kindern untersuchen. Und schließlich soll das | |
Gremium bewerten, ob sich die Ergebnisse dieser Überprüfungen auf derzeit | |
zugelassene medizinische Produkte in Großbritannien und anderswo auswirken | |
könnten. | |
Die Arzneimittelbehörde hat dazu – neben der pharmazeutischen Industrie – | |
medizinisches Fachpersonal, Wissenschaftler sowie Frauen, die | |
Hormon-Schwangerschaftstests verwendet haben, aufgerufen, etwaige Nachweise | |
einzureichen. Ein Durchbruch. Der auch international Auswirkungen haben | |
könnte: Denn in Deutschland etwa hat das Parlament es bislang abgelehnt, | |
die Geschichte von Duogynon – auch unter dem Aspekt der politischen | |
Verantwortung – aufzuarbeiten. | |
„Alle Fakten werden auf den Tisch kommen“, sagt Marie Lyon. Sie klingt | |
zufrieden. Dass sich die britischen Parlamentarier nach Jahrzehnten des | |
Wegschauens nun immerhin mit den möglicherweise schädigenden Folgen des | |
Medikaments befassen wollen, ist auch ihr Verdienst. | |
Marie Lyon, inzwischen Präsidentin der britischen Selbsthilfeorganisation | |
Association for children damaged by hormone pregnancy tests, war in den | |
vergangenen zwei Jahren bei zahlreichen britischen Parlamentariern | |
vorstellig geworden. Mitunter harrte sie über Stunden vor ihren Büros aus, | |
um ihr Anliegen persönlich vorzubringen: „Uns, die inzwischen alternden | |
Eltern der geschädigten Kinder, treibt die Sorge um, dass viele dieser | |
Kinder völlig hilflos dastehen werden, wenn wir eines Tages nicht mehr | |
leben“, sagt sie. | |
Viele könnten nicht allein für sich und ihren Lebensunterhalt sorgen. „Es | |
geht uns nicht um horrende Entschädigungssummen“, betont sie. „Es geht | |
darum, dass Unternehmen, Behörden und Regierung endlich zu ihrer | |
Verantwortung stehen.“ Dazu könne auch gehören, sagt Lyon, dass ein Staats- | |
oder Stiftungsfonds eingerichtet werde, aus dem die Geschädigten dann Geld | |
bekommen könnten – ähnlich wie es das in Deutschland für | |
Contergan-Geschädigte gibt. | |
## Kenntnis, Schuld, Verantwortung | |
Doch dazu, sie weiß das, müssten tatsächlich zunächst Fragen von Kenntnis, | |
Schuld und Verantwortung geklärt werden. | |
Die Bayer AG beteuert, mit all dem nichts zu tun zu haben: „Die von Ihnen | |
übermittelten Fragen beruhen auf der Unterstellung, dass eine gewisse | |
Wahrscheinlichkeit eines Kausalzusammenhangs zwischen embryonalen | |
Missbildungen und Primodos bestehe“, schreibt ein Sprecher der taz. „Diese | |
unterstellte Arbeitsthese ist jedoch unzutreffend. Nach wie vor ist | |
Primodos als Ursache für embryonale Missbildungen auszuschließen.“ | |
Bereits in den 1970er und 1980er Jahren seien „umfangreiche Untersuchungen | |
und Gutachten namhafter Experten zur Aufklärung möglicher Ursachen“, unter | |
anderem in Deutschland, England und in den USA, durchgeführt worden. | |
Hinweise auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Einnahme von | |
Primodos und den damals gemeldeten Fällen hätten sich nie ergeben, schreibt | |
der Firmensprecher. | |
Dennoch stehe Bayer mit der britischen Arzneimittelbehörde in Kontakt. | |
Allerdings, auch das stellt der Sprecher klar: „Weder die Bayer Pharma AG | |
noch ein anderes Unternehmen der Bayer-Gruppe hat in Großbritannien oder | |
irgendeinem anderen Land im Zusammenhang mit Primodos Vergleiche | |
abgeschlossen oder Zahlungen geleistet. Für derartige Zahlungen gibt es | |
weiterhin keinen Anlass.“ | |
Marie Lyon lässt sich von derlei Aussagen weder einschüchtern noch von | |
ihrem Vorhaben abbringen. Wichtig sei zunächst, sagt sie in ihrem Berliner | |
Hotelzimmer, „dass alle Dokumente von damals ausgewertet werden“. Deswegen | |
hat sie Kopien sämtlicher Akten aus dem Berliner Landesarchiv beantragt. | |
Die Arbeit, die vor ihr liegt, könnte Jahre dauern. „Was soll‘s“,sagt Ma… | |
Lyon, „die Wahrheit muss ans Licht.“ Nicht nur in Großbritannien und | |
Deutschland – als nächsten Schritt plant Marie Lyon, die Abgeordneten des | |
Europäischen Parlaments mit Primodos und Duogynon zu beschäftigen. | |
7 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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