# taz.de -- Möglicher Skandal durch Hormonpräparat: Der Fluch der Smarties | |
> André Sommer muss seit seiner Geburt mit Missbildungen leben. Ursache ist | |
> wohl ein Medikament. Vor Gericht soll sich ein Pharmariese verantworten. | |
> Doch der mauert. | |
Bild: Hat ein Hormonpräparat Missbildungen verursacht? Darüber soll ein Geric… | |
BERLIN taz | Im März wurde Hannes geboren. "Einfach so", sagt sein Vater | |
André Sommer. Er klingt noch ungläubig, jetzt, acht Monate später. Hannes, | |
das Baby, ist der Beweis, dass das Leben ihn nicht unterkriegt. | |
Es hat nicht immer danach ausgesehen. Als André Sommer 1976 im bayerischen | |
Füssen auf die Welt kommt, da sind die Ärzte über seinen Anblick so | |
schockiert, dass sie das Neugeborene in eine Spezialklinik nach München | |
schaffen und seiner Mutter erst drei Wochen später zeigen: der Penis ist | |
verkümmert, die Blase außen am Bauch angewachsen. | |
Was folgt, ist ein Leben, das sich wehrt gegen die permanent drohende | |
Endlichkeit: 13 Operationen allein wegen des Urin-Stomas, des künstlichen | |
Harnausgangs am Bauch, von dem keiner weiß, wie lange er hält. Penicillin | |
und Antibiotika haben seine Zähne gelockert, für die Lebensversicherung, | |
für die Berufsunfähigkeitsversicherung, für die private Krankenversicherung | |
ist André Sommer, 34 Jahre, Beamter, Grundschullehrer, vor allem: ein | |
Risikofaktor. | |
Wenn auch ein fremd verschuldeter. Die Behinderungen, mit denen er lebt, | |
sind nicht erblich bedingt, er hat das überprüfen lassen. Sie könnten | |
zurückzuführen sein auf ein Hormonpräparat namens Duogynon, von dem André | |
Sommers Mutter 1975, gerade schwanger, eine Pille schluckte. | |
Duogynon wurde in der Bundesrepublik in den Jahren 1950 bis 1981 von | |
Frauenärzten als Injektion oder Dragee verschrieben - mal gegen | |
Menstruationsstörungen, mal als Schwangerschaftstest. | |
Ein ungeheuerlicher Verdacht richtet sich gegen die Bayer Schering Pharma | |
AG als Nachfolgerin des Pharmaherstellers Schering. Er betrifft rund | |
tausend Geschädigte und mündet in der Frage, die das Landgericht Berlin ab | |
diesem Dienstag in einem ersten Zivilprozess zwischen André Sommer und der | |
Bayer Schering Pharma AG verhandelt: | |
Wann hatte der Hersteller erstmals Hinweise darauf, dass Duogynon | |
Missbildungen bei Neugeborenen verursachen könnte? Und falls Warnungen | |
vorlagen: Warum verbot Schering, anders als etwa in England 1970, das | |
Medikament nicht auch in Deutschland als Schwangerschaftstest? | |
"Ich mache das nicht, weil ich Entschädigung will. Ich will wissen, was die | |
wussten, und wenn die mir nachweisen können, dass es keinen Zusammenhang | |
gibt, dann ist die Sache für mich erledigt", sagt André Sommer. | |
Verbitterung klingt anders. "Es geht mir relativ gut", findet er. Seine | |
Genitalien zumindest haben Ärzte rekonstruieren können. "Das hat mich | |
beschäftigt, bin ich zeugungsfähig." Und jetzt gibt es Hannes. Die | |
existenziellen Fragen wurden, so gesehen, außergerichtlich geklärt. | |
Die Bayer Schering Pharma AG bestreitet nicht nur den Zusammenhang zwischen | |
Duogynon und den Schädigungen. Auf 31 Seiten legt die von ihr beauftragte | |
Kanzlei dar, weshalb André Sommer kein Recht auf Auskunft zustehe: | |
Sämtliche Ansprüche seien "mangels Erforderlichkeit" ausgeschlossen oder | |
"aus mehreren Gründen" verjährt. Der Schlag in die Magengrube erfolgt | |
verbal: "Das Auskunftsverlangen erweist sich dann als eine lediglich auf | |
eine allgemeine Ausforschung gerichtete Maßnahme." | |
Dahinter, sagt André Sommers Anwalt, der Berliner Medizinrechtler Jörg | |
Heynemann, stecke die Angst vor einer Schadenersatzklagewelle | |
unermesslichen Ausmaßes. Warum aber rollte diese nicht vor Jahrzehnten an? | |
Spätestens seit dem Contergan-Prozess (1968-1970) war die deutsche | |
Öffentlichkeit sensibilisiert. Warum also blieb bei Duogynon der große | |
Aufschrei aus? Warum wurden strafrechtliche Ermittlungen gegen Schering | |
1980 eingestellt? | |
Warum verordneten Frauenärzte weiterhin Duogynon als Schwangerschaftstest, | |
selbst da, als die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft 1973 | |
und erneut 1978 Warnungen via Deutsches Ärzteblatt aussandte? Als die | |
Presse berichtete? Als die Pillen 1978 in England - nach Finnland, | |
Australien und den Niederlanden - wegen Missbildungsgefahr endgültig vom | |
Markt genommen wurden? | |
Wer die Mechanismen der 70er und frühen 80er Jahre begreifen will, der | |
trifft auf drei Zeitzeugen, die nah dran waren, aus dem Duogynon-Verdacht | |
einen Duogynon-Skandal werden zu lassen - und die dennoch scheiterten. | |
Der Arzt Ulrich Moebius, Jahrgang 1938, ehemaliger Schering-Außendienstler | |
für Hormonpräparate und 1971 Mitgründer des pharmakritischen | |
arznei-telegramms. Der Epidemiologe und Medizinstatistiker Eberhard | |
Greiser, Jahrgang 1938, Verfasser des Forschungsberichts "Duogynon und | |
angeborene Missbildungen" aus dem Januar 1983. Der Pharmakologe Peter | |
Schönhöfer, Jahrgang 1935, von 1979 bis 1982 Abteilungsleiter | |
Arzneimittelsicherheit beim Bundesgesundheitsamt (BGA) als | |
Aufsichtsbehörde. | |
"Wir haben Duogynon und den anderen Hormondreck rausgehauen wie Smarties", | |
erinnert sich Ulrich Moebius - an Ärzte, die den Pharmareferenten, | |
"darunter versoffene Studienabbrecher, gescheiterte Existenzen", blind | |
vertrauten. Hormone, das waren doch gar keine richtigen Medikamente. | |
Bester Beweis: die Antibabypille. Es existierten häufig nicht einmal | |
Packungsbeilagen. Dafür aber die Mentalität: "Die Frau sollte wie eine Uhr | |
nach der Regel bluten." Tat sie das nicht, dann wurde im Namen des | |
medizinischen Fortschritts nachgeholfen. Mit Duogynon. Das sollte die | |
Regelblutung binnen einer Woche auslösen. Oder aber beweisen, dass die Frau | |
schwanger war. | |
Ein Schwangerschaftstest, der Blutungen hervorrufen, also fruchtschädigend | |
sein kann? Unter der Hand wurde Duogynon als Pille danach gehandelt - in | |
der Bundesrepublik regierte der Paragraf 218 - Erfolgsquote zweifelhaft. | |
Auch das ist eine Erklärung, weswegen viele Frauen, die anschließend Kinder | |
mit offenem Rücken, Herzfehlern oder deformierten Extremitäten gebaren, | |
sich auch Jahre später nicht trauten, öffentlich aufzubegehren, ihre Ärzte | |
haftbar zu machen oder gar ihren eigenen Nachwuchs einzuweihen. | |
Die vermeintlich "doppelte Schuld" wog schwer: Erst der gescheiterte | |
Abbruch, und nun lebenslänglich mit einem behinderten Kind, dessen Leid zu | |
verantworten sie glaubten. Duogynon, das war wie ein Fluch. | |
Ulrich Moebius genügten zwei Jahre bei Schering. Dann stieg er aus, | |
gründete 1971 das arznei-telegramm und warnte bereits in Ausgabe 6 (1971) | |
vor der "Anwendung von Gestagen-Östrogen-Kombinationen in der | |
Frühschwangerschaft". Moebius, der Nestbeschmutzer. | |
Die Warnungen blieben auch deshalb folgenlos, weil es keine Handhabe gab, | |
ein Medikament gesetzlich zu verbieten. Erst 1978 schuf die sozialliberale | |
Koalition unter Helmut Schmidt (SPD) als Konsequenz aus dem | |
Contergan-Skandal mit dem neuen Arzneimittelgesetz die dazu nötigen | |
Voraussetzungen. | |
Für Peter Schönhöfer, Professor für Pharmakologie, Spitzname "roter | |
Arzneimittelkommissar", ein Grund, ins Bundesgesundheitsamt zu wechseln. | |
Jedoch: "Den harten Beleg, den hatten wir nicht", sagt Schönhöfer. "Wenn | |
wir Duogynon verboten hätten, hätte es einen Prozess gegeben. Also wollten | |
wir erreichen, dass die Frauen die Tabletten nicht mehr nehmen." | |
Per Presseerklärung vom 12. Oktober 1978 informiert das BGA über | |
"Empfehlungen eines Expertengesprächs" zum Thema "Hormone in der | |
Frühschwangerschaft". Tenor: tunlichst die Finger davon lassen. Parallel | |
dazu ergeht an die Schering AG, die das Anwendungsgebiet | |
"Schwangerschaftstest" mittlerweile für Duogynon und dessen | |
Nachfolgeprodukt Cumorit gestrichen hat, die behördliche Auflage, Ärzte und | |
Öffentlichkeit hierüber zu informieren. "Es liegen uns aber keine | |
Unterlagen vor, die darüber Auskunft geben, ob und wie das geschehen ist", | |
teilt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), die | |
Nachfolgerin des BGA, im November 2010 auf Anfrage mit. Soll heißen: Weil | |
die Information vermutlich nie bei den Ärzten ankam und niemand nachhakte, | |
wurde die Schering-Pille weiter verschrieben. | |
Peter Schönhöfer weiß, an wen er sich wenden muss. Der Bremer Epidemiologe | |
Eberhard Greiser, bekannt als kritischer Medizinwissenschaftler, soll den | |
Nachweis zwischen Duogynon und den Missbildungen führen. Doch der | |
Datensatz, der Greiser dafür zur Verfügung steht, ist lausig: 320 nicht | |
standardisierte Fragebögen, viele unvollständig, erhoben nach | |
wissenschaftlich kaum verwertbaren Kategorien von Betroffenenverbänden. | |
Man kann auf dieser Grundlage keine empirisch haltbaren Aussagen treffen. | |
Greiser laviert sich trotzdem durch einen 20-seitigen Abschlussbericht. | |
Sein Plädoyer: Das BGA möge ihn mit einer weiterreichenden | |
Fall-Kontroll-Studie beauftragen. | |
Greisers Forderung kommt im Januar 1983. Zu spät: Seit Oktober 1982 heißt | |
der Kanzler Helmut Kohl. Den Regierungswechsel, sagt Peter Schönhöfer, habe | |
er "um exakt fünf Tage überlebt". Dann ist Schluss für ihn im BGA. Seither | |
darf sich dort niemand mehr für Duogynon interessieren. | |
Im Prozess vor dem Landgericht werden diese Umstände bestenfalls eine | |
marginale Rolle spielen. Verhandelt wird das Recht auf Auskunft. Auskunft, | |
die einzuklagen André Sommer nicht nur sich selbst schuldig zu sein glaubt: | |
"Ich mache das auch für meine Mutter." Seit 2001 liegt sie im Wachkoma, | |
Herzinfarkt an ihrem 47. Geburtstag. Er hat jetzt nur noch das Gericht, um | |
zu klären, was damals wirklich war. | |
Mitarbeit: Brigitte Marquardt | |
30 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
## TAGS | |
Duogynon | |
Pharmaindustrie | |
Gesundheit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Der Fall Duogynon: Wer sich nicht einschüchtern ließ | |
Der Pharmakonzern Schering versuchte jahrelang, Kritiker wie den Arzt | |
Ulrich Moebius mundtot zu machen. Dies belegen Archiv-Dokumente. | |
Klage gegen Bayer: Fatale Nebenwirkungen | |
Felicitas Rohrer klagt gegen den Pharmakonzern. Sie nahm die Antibabypille | |
Yasminelle und wäre deswegen beinahe gestorben. Sie ist kein Einzelfall. | |
Fehlbildungen bei Babys: Ein Test und seine Folgen | |
Wusste ein deutscher Pharmakonzern frühzeitig von der schädigenden Wirkung | |
seines Präparats? Die Bayer AG streitet alle Vorwürfe ab. | |
Klage gegen Bayer Schering Pharma AG: Lebenslängliche Beweise | |
Duogynon galt als harmloser Schwangerschaftstest – bis missgebildete Kinder | |
geboren wurden. Ein Betroffener klagt gegen Bayer Schering. Er hat | |
überzeugende Beweise. | |
Thrombose durch hormonelle Verhütung: Risikofaktor Antibabypille | |
Drospirenonhaltige Pillen bergen möglicherweise ein höheres | |
Thromboserisiko. In den USA muss nun verstärkt darauf hingewiesen werden. | |
Prozess gegen Pharmakonzern: Schmerzen verjähren nicht | |
Ein 34-Jähriger lebt seit seiner Geburt mit schweren Missbildungen. Schuld | |
soll das Medikament Duogynon sein. Überprüft werden darf der Verdacht | |
vorerst nicht. | |
Gesundheitsschädliche Weichmacher: Hormone in Babyflaschen | |
Kehrtwende bei dem Plastikweichmacher Bisphenol A: Die EU-Kommission strebt | |
endlich ein Verbot an. Der Stoff steht im Verdacht, unfruchtbar zu machen. |