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# taz.de -- Klage gegen Bayer Schering Pharma AG: Lebenslängliche Beweise
> Duogynon galt als harmloser Schwangerschaftstest – bis missgebildete
> Kinder geboren wurden. Ein Betroffener klagt gegen Bayer Schering. Er hat
> überzeugende Beweise.
Bild: Wegen Verjährung abgewiesen: Demonstration im April 2011.
Wenn André Sommer heute heimkehrt nach Pfronten, wird es Pfannkuchen geben.
Hannes, sein zweijähriger Sohn, liebt Pfannkuchen. Und deswegen hat der Opa
gesagt, dass sie heute, an seinem 61. Geburtstag, Pfannkuchen essen. Ein
strahlend klarer Tag im Allgäu, auf den Bergen schmilzt der letzte Schnee,
und wenn es windstill bleibt, dann können sie vielleicht sogar alle
zusammen draußen sitzen, und die Oma, Lydia Sommer, 58 Jahre alt, wird auch
dabei sein.
André Sommer, der 36 Jahre alt ist, und sein Vater Herbert werden sie
heraustragen aus ihrem Bett im Wohnzimmer. In dem liegt sie seit elf
Jahren, abwesend, regungslos, künstlich ernährt. Aber selbstständig atmend.
Ob und wie viel Bewusstsein sie hat, vermag niemand zu sagen. Vor elf
Jahren, an ihrem 47. Geburtstag, hatte Lydia Sommer einen Herzinfarkt.
Seither schwebt sie in einem Zustand, der ihre Familie mal hoffen, mal
verzweifeln lässt, und den Ärzte als Wachkoma bezeichnen.
„Ich würde etwas darum geben, noch einmal mit ihr reden zu können“, sagt
André Sommer. Ihr sagen zu können, dass er jetzt ganz nah dran ist. Dass er
anhand neu aufgetauchter Dokumente vielleicht doch wird nachweisen können,
was er ihr versprochen hat: Dass sie wirklich keine Schuld trifft an den
Missbildungen, mit denen er 1976 geboren wurde: der Penis verkümmert, die
Blase außen am Bauch angewachsen.
Die Schuldfrage müsse bei anderen überprüft werden, sagt André Sommer: Bei
der Berliner Pharmafirma Schering, die bis weit in die siebziger Jahre
hinein in Deutschland ein Medikament verkauft hatte, das auch André Sommers
Mutter 1975, gerade schwanger geworden, geschluckt hatte: Duogynon, eine
Gestagen-Östrogen-Kombination, eingesetzt als Mittel bei ausgebliebener
Monatsblutung. Aber eben auch als vermeintlich harmloser
Schwangerschaftstest. Und das, obwohl Schering möglicherweise bereits seit
Ende der sechziger Jahre Kenntnis darüber hatte, dass Duogynon
fruchtschädigend wirken konnte.
Das legen jetzt öffentlich gewordene Dokumente aus den sechziger Jahren aus
Großbritannien nahe, wo Duogynon unter dem Namen Primodos verkauft wurde.
Jahrzehntelang lebten hunderte Familien und ihre Kinder, die an
Gaumenspalten, Herzfehlern und deformierten Extremitäten litten, mit einem
Verdacht, für den sie jedoch keine Beweise hatten. Jetzt aber haben
Behörden Akten freigegeben, sind Sperrfristen abgelaufen, haben Zeugen sich
erinnert und ihre Archive durchwühlt. Zumindest in Großbritannien.
## Mehr als nur ein Zufall
Und André Sommer hält einige dieser Dokumente in den Händen, in
beglaubigter Übersetzung und wie einen Schatz: Vertrauliche Schriftwechsel
zwischen Mitarbeitern von Schering Chemicals Limited, dem britischen
Schering-Ableger, und der dortigen damaligen Arzneimittelbehörde Committee
on Safety of Drugs, Warnhinweise von Ärzten, Berichte über Tierversuche,
Studien. Alle mit dem einen Tenor: Die vielen Babys mit Fehlbildungen nach
der Einnahme von Primodos während der Frühschwangerschaft – sie waren mehr
als ein Zufall.
Wenn aber Schering England informiert war, warum dann nicht auch Schering
Deutschland? Warum blieb Duogynon hier auf dem Markt? Warum enthielt nicht
einmal die Packungsbeilage Warnhinweise?
Deswegen zieht André Sommer, der als Grundschullehrer im bayerischen
Pfronten arbeitet, an diesem Donnerstag erneut vor das Landgericht Berlin –
als Kläger gegen die Bayer Schering Pharma AG. Sie ist die Nachfolgerin von
Schering. Sie will er haftbar machen für den ihm entstandenen Schaden: Für
dreizehn Operationen wegen des Urin-Stomas, des künstlichen Harnausgangs am
Bauch, von dem keiner weiß, wie lange er hält. Für mehrere Eingriffe zur
Rekonstruktion seiner Genitalien. Für gelockerte Zähne aufgrund starker
Antibiotikagaben. André Sommer sagt: „Für mich ist das lebenslänglich und
nichts, das verjährt.“
Wer sich an die Bayer Schering Pharma AG wendet und wissen möchte, was dem
Mutterkonzern in Deutschland wann über Duogynon bekannt war, ob die
Schriftstücke aus England der deutschen Firmenleitung damals vorlagen und
ob es möglich wäre, diese Fragen anhand des Firmenarchivs zu recherchieren,
erhält per E-Mail eine Standardantwort: „Nachdem Ende der 60er Jahre
Bedenken gegen die Sicherheit von Duogynon geäußert wurden, wurde Duogynon
erneut zahlreichen Prüfungen im In- und Ausland unterzogen.
Es folgte ein ausführlicher wissenschaftlicher Diskurs mit unabhängigen
Experten und Fachorganisationen mit dem Ergebnis, dass es keinen Nachweis
für einen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Duogynon und dem Auftreten
der seinerzeit aufgetretenen Missbildungen gibt. Es sind keine neuen
wissenschaftlichen Erkenntnisse bekannt, die die Gültigkeit der damaligen
Bewertung in Frage stellen würden.“
## Angst vor einer Klagewelle
Keine Angaben dazu, wer diese unabhängigen Experten und Fachorganisationen
sein sollen. Keine Herausgabe der vermeintlichen Nachweise. Keine
Veröffentlichung der angeblich vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Bayer Schering macht dicht. Zu groß sei die Angst vor einer Klagewelle,
mutmaßt André Sommers Berliner Rechtsanwalt Jörg Heynemann: Schätzungen von
Betroffeneninitiativen zufolge geht die Zahl der Duogynon-Geschädigten
weltweit in die Tausende.
Im ersten Prozess vor eineinhalb Jahren war der Konzern durchaus
erfolgreich mit seiner Taktik, zu mauern, zu schweigen, abzulehnen. Damals
entschied das Landgericht Berlin, etwaige Auskunftsansprüche von André
Sommer seien verjährt. Die inhaltliche Frage, ob Duogynon fruchtschädigend
wirken konnte oder nicht und seit wann Schering hierüber informiert war,
blieb dabei auf der Strecke.
Und jetzt die neuen Dokumente. Es ist die Kinderärztin Isabel Gal vom Queen
Mary’s Hospital for Children in Carshalton, Surrey, der das Leid ihrer
kleinen Patienten keine Ruhe lässt. 1967 veröffentlicht Gal in der
Fachzeitschrift Nature eine Studie: Mütter missgebildeter Kinder haben zu
einem überdurchschnittlich hohen Prozentsatz hormonelle
Schwangerschaftstests vorgenommen. Die Arzneimittelbehörde reagiert.
In einem als „vertraulich“ klassifizierten Schreiben vom 11. Dezember 1967
an die „sehr geehrte Frau Dr. Gal“ schreibt der Senior Medical Officer, W.
H. W. Inman, „dass die Hersteller nun aktive Maßnahmen ergreifen, um dem
Verdacht auf eine teratologische [Missbildungen verursachende, d. Red.]
Wirkung nachzugehen“. Am College of General Practitioners in Schottland
würden mehr als 10.000 Schwangerschaften verfolgt. „Ich persönlich vertrete
dieselbe Einstellung zum Nutzen von Schwangerschaftstests wie Sie“,
schreibt Inman an Gal und fährt fort: „Ich halte sie offen gestanden nicht
für zweckmäßig genug im Vergleich mit anderen (biologischen) Methoden, um
auch nur den geringsten Hinweis auf eine Teratogenizität zu rechtfertigen.“
## Erneute Warnung
Mit dieser Einschätzung ist der Mann von der Londoner Aufsichtsbehörde
nicht allein. Am 17. Februar 1969 bekommt Inman Post. Der Absender ist N.
M. B. Dean, Pharmaceutical Division, Schering Chemicals Limited. Der
Schering-Mitarbeiter Dean warnt vor dem Schering-Medikament: „Im Rahmen der
Outcome of Pregnancy Study des Royal College of General Practitioners haben
wir speziell das Ergebnis der Schwangerschaft immer dann untersucht, wenn
bestimmte spezifische Medikamente verabreicht worden waren. […] Auf den
ersten Blick scheint es jedoch, dass die 10% Aborte nach Primodos
wahrscheinlich nicht dem Zufall geschuldet sind. Hinsichtlich der 4
verzeichneten Anomalien handelt es sich bei zweien um Gaumenspalten. […]
Angesichts dieser, wenn auch vorläufigen Ergebnisse, sollte man nach meiner
persönlichen Meinung Primodos zurückziehen bzw. nicht weiter verwenden.“
Der Druck auf Schering wächst. Die Firma pariert auf ihre Art – mit der
bewusst versuchten Diskreditierung kritischer Wissenschaftler und deren
Publikationen im Medical Letter. Im August 1969 zirkuliert bei Schering ein
internes Papier, eine Art Argumentationshilfe für einen Konzern in
Bedrängnis: „Die vorliegende Analyse verfolgt den Zweck, andere als im
Medical Letter zitierte Nachweise vorzulegen, was nahe legt, dass die im
Medical Letter gezogenen Schlussfolgerungen anfechtbar und möglicherweise
vollkommen irrig sind.“
1970 ist Schluss. Die britischen Behörden ziehen die Reißleine. Primodos
darf nicht mehr als Schwangerschaftstest angewendet werden. In Deutschland
dagegen passiert bis zur Marktrücknahme 1981 nichts.
Treuwidrigkeit wegen gezielter Täuschung der Öffentlichkeit seit den
siebziger Jahren, so heißt der Vorwurf im Juristendeutsch. Bejaht ihn das
Landgericht und gibt damit André Sommers zivilrechtliche Haftungsklage
statt, dann hat Sommer einen Wunsch: Dies seiner Mutter zu sagen. Und Gehör
bei ihr zu finden.
4 Jul 2012
## AUTOREN
Heike Haarhoff
## TAGS
Gesundheit
Schwerpunkt Bayer AG
Patientenrechte
Schwangerschaft
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Doch der mauert.
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