# taz.de -- Fehlbildungen im Mutterleib: Es gab nicht nur Contergan | |
> Dass Duogynon zu Behinderungen bei Kindern führte, ist bisher nicht | |
> eindeutig nachzuweisen. Nun liegen der taz interne Dokumente vor. | |
Bild: In Großbritannien wurde Duogynon 1978 wegen Fehlbildungsgefahr vom Markt… | |
Es ist eine britische Kinderärztin, die 1967 erstmals über einen möglichen | |
Zusammenhang zwischen dem Medikament Duogynon des Arzneimittelherstellers | |
Schering und Fehlbildungen bei Ungeborenen schreibt. Kinder kamen mit | |
offenen Rücken, Herzfehlern, fehlenden Gliedmaßen, deformierten Därmen oder | |
Genitalien zur Welt. | |
Der Verdacht, den viele Mütter der geschädigten Kinder bis heute haben: | |
Duogynon könnte Schuld sein an ihrem Leid. | |
Vertrauliche Dokumente zeigen nun, dass Schering Chemicals Limited, das | |
britische Tochterunternehmen des Berliner Pharmakonzerns Schering, damals | |
einen externen Statistiker beauftragte, die Ergebnisse der | |
Wissenschaftlerin zu überprüfen. | |
Er befand ihren Bericht für „an sich korrekt“ und riet zu weiteren | |
Untersuchungen. Doch die Forschungsabteilung lehnte ab: „Es bestünde die | |
Gefahr, daß eine derart ausgedehnte Studie erst recht die Aufmerksamkeit | |
auf den Verdacht lenken und so zu unerwünschtem Aufsehen führen würde.“ | |
André Sommer ist einer der Betroffenen, er wird 1976 mit einem verkümmerten | |
Penis geboren, seine Harnblase ist außen am Bauch angewachsen. Heute ist er | |
39 Jahre alt und will wissen, was diese Fehlbildungen verursacht haben | |
könnte. Schätzungsweise gab es europaweit Tausende Betroffene. | |
Die vertraulichen Dokumente des Pharmakonzerns sind der Öffentlichkeit noch | |
nicht zugänglich, über Umwege landeten sie aber bei unserer Autorin Heike | |
Haarhoff. In der taz.am wochenende zeichnet sie anhand der Unterlagen das | |
Psychogramm einer der einst mächtigsten Firmen der Bundesrepublik, der | |
spätestens seit Mitte der sechziger Jahre Zweifel an ihrem Produkt bekannt | |
waren. Die sich aber dennoch weigerte, Konsequenzen zu ziehen – vielleicht | |
auch, weil sie gewiss sein konnte, gesetzeskonform zu handeln. | |
## Detektive in eigener Sache | |
Duogynon war in den Sechzigern eine Innovation. Der Pharmakonzern Schering | |
stellte es als Injektion und Dragee her. Es wurde bei | |
Menstruationsstörungen und als hormoneller Schwangerschaftstest empfohlen – | |
wenn die Regel nach der Einnahme des Mittels nicht einsetzte, galt die | |
Patientin als schwanger. | |
Zweimal klagte André Sommer als Betroffener gegen die heutige Bayer AG auf | |
Akteneinsicht. Zweimal hat er wegen Verjährung verloren. Auch Marie Lyon | |
ist auf der Suche nach Erklärungen. Die heute 69-Jährige brachte 1970 ihre | |
Tochter Sarah zur Welt, deren linker Unterarm fehlt, die Finger wachsen aus | |
dem Ellenbogen. Auch sie hatte während der Schwangerschaft Duogynon | |
genommen. | |
Im Frühsommer 2015 erhalten Sommer und Lyon wegen persönlicher | |
Betroffenheit schließlich eine Sondererlaubnis, die mehr als 7.000 Seiten | |
mit vertraulicher Korrespondenz des Pharmakonzerns im Landesarchiv Berlin | |
einzusehen. | |
„Duogynon“, sagt André Sommer, „das ist vielleicht ein zweites Contergan… | |
15 Operationen hat er heute hinter sich, allein wegen des künstlichen | |
Harnausgangs am Bauch. Sommer will Antworten. Wann hatte Schering erstmals | |
Hinweise darauf, dass das Medikament embryonale Fehlbildungen verursachen | |
könnte? Und falls es sie gab: Warum nahm der Konzern das Medikament nicht | |
früher vom Markt? Warum verbot er nicht den Einsatz als | |
Schwangerschaftstest? | |
Bis heute antwortet der Hersteller nicht auf diese Fragen. Es gibt auch | |
keine Rechtsgrundlage, die Antworten zu erzwingen. Denn, das scheint | |
unbestritten: Das Unternehmen hat nicht gegen geltendes Recht verstoßen. | |
## Deutschland hinkte hinterher | |
Doch die vertraulichen Dokumente zeigen, dass es auch intern Beunruhigung | |
über die Wirkung von Duogynon gab. Zwei britische Schering-Mitarbeiter | |
forderten in einem Schreiben schon 1968 weitere Untersuchungen. Ohne | |
Erfolg. 1975, schrieb einer der beiden erneut an die Muttergesellschaft in | |
Berlin: In den „letzten fünf Jahren hat die Arzneimittelüberwachung an | |
Schwangeren ergeben, daß bei denen, die einen hormonalen Test gehabt | |
hätten, ein relatives Risiko von 5:1 bestehe, ein mißgebildetes Kind zu | |
bekommen“. | |
Und auch als die Pillen 1978 in Großbritannien wegen Fehlbildungsgefahr | |
schließlich vom Markt genommen werden, änderte sich in Deutschland wenig. | |
Schering nahm für Duogynon nur die Empfehlung als Schwangerschaftstest | |
zurück und benannte das Präparat um. Erst 1981 wurde es aus dem Handel | |
genommen – mit der Begründung, die Behandlung mit dem Medikament sei | |
überholt. | |
Lesen Sie den Report „Eine einzige Tablette“ und das Interview mit | |
Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert in der neuesten Ausgabe der | |
[1][taz. am wochenende vom 9./10. Januar.] | |
8 Jan 2016 | |
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[1] /Ausgabe-vom-9/10-Januar-2016/!161624/ | |
## AUTOREN | |
Saskia Hödl | |
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