# taz.de -- Feuerattacke auf Obdachlosen: Hilflose Erklärungsversuche | |
> Seit Mai verhandelt das Berliner Landgericht gegen sechs Flüchtlinge | |
> wegen versuchten Mordes an einem Obdachlosen. Eine Zwischenbilanz. | |
Bild: Die Bank, zwei Tage nach der Tat fotografiert | |
Ganz kurz nur flimmert das Bild im Gerichtssaal B 129 über die Leinwand. Es | |
gehört zu den Tatortfotos, die sich das Gericht im Schnelldurchlauf | |
ansieht. Zu sehen ist ein Mann – geschätzt Mitte 30 bis Mitte 40. Er sitzt | |
auf einer Bank im U-Bahnhof. Die schwarze Mütze hat er tief ins Gesicht | |
gezogen, auf der rechten Seite seines Halses prangt ein riesiges | |
verschnörkeltes Tattoo. Mit großen Augen schaut er in die Polizeikamera. | |
Sein Blick ist fragend. Es ist das einzige Mal, dass der Obdachlose Maciej | |
B. als Mensch aus Fleisch und Blut im Prozess erfassbar wird. Dabei ist er | |
hier die Hauptperson. | |
Am 25. Dezember 2016 hatte der gebürtige Pole auf einer Bank im U-Bahnhof | |
Schönleinstraße geschlafen, als dicht neben seinem Kopf ein Feuer entzündet | |
wurde. B. blieb unverletzt. Fahrgäste löschten den Brand. Sechs junge | |
Flüchtlinge müssen sich deshalb zurzeit wegen versuchten Mordes vor dem | |
Landgericht verantworten. Fünf Mal hat die 13. Jugendstrafkammer inzwischen | |
verhandelt, am heutigen Dienstag geht der Prozess weiter. | |
Die Gruppe auf der Anklagebank kannte sich vor der Tat nur flüchtig. Alle | |
kommen aus Syrien. Einige sind wie der 16-jährige Bashar K. – der Junge mit | |
dem Lockenkopf ist der Jüngste – ohne ihre Eltern nach Deutschland | |
geflohen. Mit ernsten Gesichtern, Kopfhörer im Ohr, sitzen sie neben ihren | |
Verteidigern. Eine Dolmetscherin übersetzt simultan ins Arabische. | |
Alle sitzen seit dem 27. Dezember in Untersuchungshaft. Im Prozess | |
schweigen sie, aber in den Einlassungen, die ihre Anwälte für sie abgegeben | |
haben, sagen sie, dass sie den Obdachlosen nicht töten wollten. Niemand | |
habe geglaubt, dass der Mann brennen könne. | |
Die Staatsanwaltschaft geht in ihrer Anklageschrift wegen versuchten Mordes | |
vom Gegenteil aus. Gestützt ist der Vorwurf zum einen auf das, was einige | |
der Angeklagten nach ihrer Festnahme bei der Mordkommission ausgesagt | |
haben. | |
Und dann sind da die gestochen scharfen Aufnahmen der Überwachungskameras. | |
Allerdings sind die Bilder ohne Ton. Warum der 21-jährige Hauptangeklagten | |
Nour N. ein brennendes Taschentuch neben den Schlafenden legte und worüber | |
er und die anderen zuvor geredet haben – darüber kann man nur spekulieren. | |
Der Einzige, der im Prozess vielleicht dazu etwas sagen könnte, wäre B. | |
Aber der ist nicht als Zeuge geladen. „Er hat von dem Geschehen nichts | |
mitbekommen“, sagte eine Kripobeamtin, die statt seiner gehört wurde. | |
Drei Tage nach der Tat hatten die Frau, einer ihrer Kollegen und ein | |
Dolmetscher für Polnisch den Geschädigten im U-Bahnhof Leinestraße | |
aufgesucht. B. habe im Mitteldeck neben seiner Gitarre auf einer Decke | |
gelegen und geschlafen, erzählt die Zeugin. Zunächst sei er sehr brummig | |
gewesen, weil man ihn geweckt habe. | |
Eigentlich sollte die Vernehmung bei der Mordkommission in der Keithstraße | |
stattfinden. Aber nicht einmal die Aussicht auf eine Tasse Kaffee habe ihn | |
bewegen können mitzukommen. „Die Züge kamen und gingen, er stand vor uns | |
und wollte sich nicht setzen“, so die Beamtin. Also habe man die Vernehmung | |
vor Ort „handschriftlich in aller Kürze gemacht“. | |
Heiligabend ist in Berlin kaum jemand unterwegs. Die Flüchtlinge – einige | |
wohnten in betreuten Unterkünften – hätten sich gelangweilt, glaubt | |
Staatsanwalt Martin Glage. Aus den Erklärungen der Angeklagten ergibt sich, | |
dass man sich am 24. Dezember abends auf dem Alexanderplatz traf. Man fuhr | |
mit der U-Bahn herum, landete irgendwann am Kottbusser Tor, wollte von dort | |
zu Fuß weiter zum Herrmannplatz, entschied sich an der Schönleinstraße | |
aber, doch lieber mit der U-Bahn weiterzufahren. | |
Der Pole Maciej B. verbringt Heiligabend so, dass er mit drei „Brüdern“ | |
zwei Flaschen Wodka leert. Brüder, dass seien seine Kumpels, erklärte die | |
Kripobeamtin: „Man hat sich einen netten Abend gemacht.“ Dann habe jeder | |
seinen Schlafplatz aufgesucht. | |
Auf dem U-Bahnhof Schönleinstraße habe B. eigenen Angaben zufolge noch | |
„eine Zigarette geraucht und ein Bierchen getrunken“. Dann habe er sich in | |
eine Decke gewickelt und es sich auf der Bank „gemütlich gemacht“. Auf der | |
Seite liegend, den Rucksack und eine blaue Ikeatüte als Kopfkissen | |
benutzend, sei er eingeschlafen. | |
Mittlerweile ist der erste Weihnachtsfeiertag angebrochen. Die Filme der | |
Überwachungskameras zeigen drei Perspektiven des Bahnhofs. Es ist kurz vor | |
2.00 Uhr. Die Gruppe kommt nach und nach die Stufen herab. Einige bleiben | |
vor der Bank stehen und betrachten den Schlafenden. B. liegt komplett unter | |
einer Decke. Das ist gut zu erkennen, weil die weiß ist. | |
Nicht mal sein Kopf schaut heraus. Die jungen Männer nehmen von B. nicht | |
weiter Notiz und gehen auf die andere Seite der Bank. Einige setzen sich | |
auf die Rückenlehne, spielen mit ihren Handys, andere laufen herum. Man | |
wartet auf den Zug. | |
Die Filmsequenz vom Geschehen auf Bahnhof ist zehn Minuten lang. Es dauert, | |
bis die entscheidenden Dinge passieren. Irgendwann steht der | |
Hauptangeklagte Nour N. vor der Bank, auf der die anderen sitzen. Er redet | |
und gestikuliert. N. ist der älteste der Beschuldigten, körperlich ist er | |
aber der kleinste. In der Nacht trägt er eine leuchtend rote Jacke. Eine | |
psychiatrische Sachverständige nennt das vor Gericht mit Blick auf dessen | |
Körpergröße „Imponiergehabe“. N. habe sich vor den anderen wie auf einer | |
Bühne als „möglichst cool und erwachsen“ produzieren wollen. | |
N. hat ein rundes kindliches Gesicht. Dass sieht man aber erst jetzt. Den | |
Bart, den er im Film noch trug, hat er inzwischen abrasiert. Am ersten | |
Verhandlungstag weinte er so viel, dass sein Gesicht ganz fleckig war. Im | |
Film wirkt N. aufgekratzt, als er vor anderen steht und gestikuliert. In | |
seiner Einlassung heißt es später, er sei in der Nacht betrunken gewesen, | |
habe Cannabis geraucht und sogar Heroin geschnupft. | |
Irgendwann kommt auf dem Bahnhof ein Moment, an dem fast alle in der Gruppe | |
die Kapuzen ihrer Winterjacken aufsetzen – wie auf Zuruf wirkt das. N. geht | |
an der Seite der Bank, wo der Kopf des Schlafenden liegt, in die Hocke. | |
Kurz darauf leuchtet ein Feuerschein neben dem Rucksack des Obdachlosen | |
auf. Der hat sich die ganze Zeit nicht gerührt und tut es auch nicht, als | |
die jungen Männer sich langsam zum anderen Ende des Bahnsteigs entfernen | |
und das Feuer deutlich größer wird. „Erst als er geweckt wurde, hat er die | |
Hitze gespürt“, sagt die Kripobeamtin, die B. vernommen hat. | |
Das Video zeigt, was dann passiert. Dass ein Zug einfährt, Fahrgäste | |
aussteigen, den Obdachlosen wachrütteln und den Rucksack von der Bank | |
reißen. Eine Frau, die aussieht wie eine Punkerin, kippte das Bier, das sie | |
dabei hat, über der Brandstelle aus. Ein U-Bahn-Fahrer kommt mit einem | |
Feuerlöscher angerannt und nebelt die Bank ein. Die Flammen waren bereits | |
auf den Rucksack und die Ikeatüte übergegangen, heißt es in der | |
Anklageschrift. | |
Im Prozess wird ein Foto von der Bank eingeblendet. Es zeigt auf der | |
rechten Seite am Kopfende mehrere große schwarze Flecken. Beschriftet ist | |
es mit den Worten „Rußanhaftung“ und „Schmorstelle“. Ein Kripobeamter | |
ergänzte im Prozess, auch ein kleiner BVG-Faltplan habe gebrannt. „Der Plan | |
war angebrannt, aber noch als Rest erkennbar.“ Könnte das erklären, warum | |
das Feuer so schnell aufloderte? | |
Bei der Vernehmung durch die Mordkommission soll einer der Angeklagten | |
gesagt haben, jemand aus der Gruppe hätte vorgeschlagen: „Lasst ihn uns | |
anzünden.“ Alle hätten Bescheid gewusst. Aber es soll auch geheißen haben: | |
„Nein, mach das nicht.“ Die Tendenz sei spürbar gewesen, alles auf N. zu | |
schieben, sagt ein Beamer der Mordkommission. | |
Doch was einige der minderjährigen Angeklagten bei der Polizei ausgesagt | |
haben, wird im Prozess nicht als unmittelbares Beweismittel verwendet | |
werden. Die Vorsitzende Regina Alex begründete das so: Die Kripo habe es | |
versäumt, die gesetzlichen Vertreter der Angeklagten ausreichend über ihre | |
Rechte aufzuklären. Eltern und Vormünder von minderjährigen Beschuldigten | |
haben das Recht, bei der Vernehmung dabei zu sein. | |
Für Nour N. gilt das nicht. „Es hätten schlimmste Sachen passieren können�… | |
soll N. bei der Kripo gesagt haben. Seinen Eindruck von N. beschrieb ein | |
Beamter als Zeuge so: „Er realisierte es nicht nur, er bedauerte es auch.“ | |
N. selbst ließ über seinen Verteidiger erklären: Ein Streich habe es sein | |
sollen, auch wenn er sich nicht mehr traue, das heute noch so zu | |
bezeichnen. Auf die Idee gebracht hätten ihn die Streiche, die man sich in | |
den Flüchtlingsunterkünften gespielt habe. Aus Langeweile habe man | |
Schlafenden dort erhitzte Kunststoffkügelchen zwischen die nackten Zehen | |
gesteckt. Er schäme sich sehr für das, was er getan habe, „zumal damit auch | |
ein verheerendes Bild auf andere Flüchtlinge geworfen wird“. | |
Weil die Angeklagten keine Nachfragen beantworten, sucht das Gericht bei | |
den psychiatrischen Sachverständigen nach Erklärungen. Es könne sich um die | |
Hierarchisierung einer Gruppe handeln, deren Teilnehmer sich nicht | |
besonders gut kennen, sagt eine Gutachterin. „Man triggert sich hoch: Wer | |
setzt noch einen drauf? Mann oder Memme?“ | |
Was die beiden Sachverständigen dann allerdings zu den persönlichen | |
Hintergründen und psychischen Befindlichkeiten von N. und einem anderen | |
Angeklagten vortragen, klingt hölzern und wie aus dem Lehrbuch | |
abgeschrieben. Ob N., der ohne Eltern geflohen ist, traumatisiert sein | |
könne, fragt die Richterin. Die Antwort der Gutachterin kommt wie aus der | |
Pistole geschossen: „Nein.“ N. habe in seinem Leben zwar „Verletzte geseh… | |
und Hinrichtungen“ – aber eine posttraumatische Störung habe sie bei ihm | |
nicht erkannt. | |
Von der Kripobeamtin will die Richterin wissen, wie der Obdachlose B. das | |
Ganze empfunden habe. Die Tat habe ihn erbost, sagte die Zeugin. Regelrecht | |
froh sei er aber darüber gewesen, mal was von seinen Lebensumständen | |
erzählen zu können. Er lebe gern auf der Straße. Aber dass man als | |
Obdachloser bisweilen so niedergemacht werde, sei schlimm. „Zum Schluss“, | |
sagt die Beamtin, „hat er uns sogar noch ein paar Takte auf seiner Gitarre | |
vorgespielt.“ | |
30 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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