# taz.de -- Feuerattacke auf Obdachlosen: Die Anklage wackelt | |
> Am Dienstag wird das Urteil im Prozess gegen sechs Flüchtlinge erwartet, | |
> die einen Obdachlosen angezündet haben sollen. | |
Bild: Brandflecken an der Bank im U-Bahnhof Schönleinstraße – ein knappes h… | |
Es dauerte einen Moment, bis die Botschaft bei den jungen Männern ankam. | |
Seit über fünf Monaten sitzen sie wegen versuchten Mordes in | |
Untersuchungshaft. Die Wende in dem seit Mai andauernden Prozess hatte sich | |
zwar abgezeichnet. Aber sie war erst bei der Urteilsverkündung in den | |
nächsten Tagen erwartet worden. | |
Es kam anders. Am vergangenen Freitag gegen 15 Uhr verkündete die | |
Vorsitzende Richterin der 13. Jugendstrafkammer den Beschluss: Die | |
Haftbefehle von fünf der sechs Angeklagten seien aufgehoben, sagte Regina | |
Alex. | |
Ein, zwei Sekunden verstrichen, dann ging ein Strahlen über die Gesichter | |
der Angeklagten. Einer riss kurz die Arme in die Höhe. Aber die Freude war | |
still. Erst draußen auf dem Gerichtsflur, wo sie von Familienangehörigen | |
und Betreuern in die Arme geschlossen wurden, kam es zu stürmischen Szenen. | |
Nur einer durfte den Saal nicht verlassen und schaute traurig: Der | |
21-jährige Hauptangeklagte Nour N. Er bleibt weiter in Haft. N. war | |
derjenige, der im Beisein der anderen am 25. Dezember 2016 auf dem | |
U-Bahnhof Schönleinstraße ein brennendes Taschentuch neben den auf einer | |
Bank schlafenden Obdachlosen gelegt hatte. | |
Noch am 16. Mai hatte das Gericht bei allen sechs Angeklagten Haftfortdauer | |
angeordnet. Zu diesem Zeitpunkt war die Beweisaufnahme in dem Prozess schon | |
ziemlich fortgeschritten: Die zehnminütigen tonlosen Aufzeichnungen der | |
Überwachungskameras des U-Bahnhofs waren gezeigt und diverse Beamte der 4. | |
Mordkommission als Zeugen gehört worden. | |
Klar war zu dem Zeitpunkt bereits, dass die Aussagen, mit denen sich einige | |
der minderjährigen Angeklagten bei der Kripo zum Teil selbst belastet | |
hatten, vom Gericht nicht verwertet werden. Der Grund: Jugendliche haben | |
das Recht, dass ein Erziehungsberechtigter bei der polizeilichen Vernehmung | |
dabei ist. Die Ermittler hatten die Eltern beziehungsweise Vormünder aber | |
nicht ausreichend über deren Konsultationsrecht aufgeklärt. | |
Das Beweisverwertungsverbot begründete die Vorsitzende Alex so: | |
„Jugendliche sind wesentlich geständnisfreudiger als Erwachsene.“ | |
Deutlicher sagte es einer der Verteidiger: Die Beamten der Mordkommission | |
wüssten, wie man Jugendliche zum Reden bringe. Ein bisschen Einschüchterung | |
und Überrumpelung – schon sprudele das Gegenüber. | |
Schon am 16. Mai waren die Verteidiger der Meinung, mit dem | |
Verwertungsverbot sei die tragende Säule der Anklage weggebrochen. Aber die | |
Wende kam erst am Freitag. Das Gericht signalisierte, dass die Tat des | |
Hauptangeklagten auch als versuchte gefährliche Körperverletzung gewertet | |
werden könnte. Und die der Mitangeklagten als Beihilfe. | |
Der Medienandrang zu Beginn des Verfahrens war riesig. Die Tat hatte weit | |
über Berlin hinaus Entsetzen ausgelöst. Dem Schlafenden war zwar nichts | |
passiert, Fahrgäste hatten ihn rechtzeitig geweckt und den brennenden | |
Rucksack unter seinem Kopf weggerissen. Aber es gibt wohl kaum etwas | |
schäbigeres, als sein Mütchen an einem wehrlosen Obdachlosen zu kühlen. | |
Dass der Fall solche Wellen schlug, hatte aber auch damit zu tun, dass die | |
Tatverdächtigen im Alter zwischen 16 und 21 Jahren Flüchtlinge sind. Alle, | |
auch die beiden staatenlosen Palästinenser sind in Syrien aufgewachsen. | |
Einige sind allein ohne Eltern über Libyen nach Deutschland gekommen, | |
andere sind über die Balkanroute geflohen. Eine Berichterstatterin, die den | |
Prozess für einen privaten Fernsehsender verfolgte, empörte sich auf dem | |
Gerichtsflur mit den Worten: „Wenn wir sie schon in Deutschland aufnehmen, | |
kann man erwarten, dass sie sich anständig benehmen.“ | |
Die Bilder der Überwachungskameras zeigen, dass der Feuerschein stetig | |
größer wird. Aber versuchter Mord? In einem Gespräch unter vier Augen | |
vermutete einer der Verteidiger: Wären Zehlendorfer Jugendliche die | |
Tatverdächtigen gewesen, hätten Polizei und Staatsanwaltschaft den Fall | |
nicht so hoch gehängt. Er könne das aber nicht belegen, sagt der Anwalt und | |
möchte deshalb nicht namentlich zitiert werden. | |
Dass die Angeklagten Flüchtlinge seien, sei für die Schuldfeststellung | |
gänzlich unerheblich, sagte Staatsanwalt Martin Glage am Freitag in seinem | |
Plädoyer. Den versuchten Mord hält er nach wie vor für erwiesen. Der | |
Tötungsvorsatz – „eine spontane Entscheidung“ – sei durch die Videos | |
belegt. Alle Angeklagten hätten die Flammen gesehen und gewusst, wie | |
gefährlich das sein könne. | |
Für den Hauptangeklagten beantragte Glage vier Jahre Haft. Für die fünf | |
Mitangeklagten Strafen von zwei Jahren auf Bewährung bis zu zwei Jahren und | |
zehn Monaten Haft. Die Verteidiger plädieren am heutigen Dienstag, | |
möglicherweise gibt es dann auch das Urteil. | |
13 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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