# taz.de -- Berlin, die Hauptstadt der Ungläubigen: Ach Gottchen! | |
> Trotz des Gedrängels beim Kirchentag: Mit Kirche hat man sonst in Berlin, | |
> der atheistische Hauptstadt Europas, nicht viel zu tun. Warum? | |
Bild: Verboten ist in Berlin wenig, aber es wird auch wenig gebetet | |
„Die spinnen doch. Was soll der Kirchentag in Berlin?“ Silvia Kortmann | |
erinnert sich noch gut an ihre Reaktion, als sie das erste Mal von den | |
Plänen für das religiöse Großereignis hörte, das seit Mittwoch die Stadt in | |
Beschlag nimmt. In gewisser Weise muss sie so denken, denn Kortmann ist | |
Sprecherin des Internationalen Bunds der Konfessionslosen und Atheisten | |
(IBKA) in Berlin. Übersetzt für Christen also so etwas wie eine | |
Erzbischöfin – für Gottlose. | |
Religion hat für die 65-Jährige nie eine Rolle gespielt. Nicht in ihrem | |
Elternhaus im Prenzlauer Berg, nicht in der Schule oder in ihrem | |
Arbeitsumfeld. Bis zum Mauerfall habe sie in ihrem gesamten Freundes- und | |
Bekanntenkreis nur zwei Menschen gekannt, die an Gott glaubten. | |
DDR-Normalität. | |
Nach dem Mauerfall und ihrem Umzug nach Marienfelde begegnete sie auf einer | |
Elternversammlung einem Mann, der sich öffentlich zu seinem Glauben | |
bekannte. „Der traut sich ja was“, dachte Kortmann damals, „dass er zugib… | |
heute noch so altertümlich zu denken.“ | |
Mit dieser Selbstverständlichkeit, Religion und Glaube keinen Platz | |
einzuräumen, ist Kortmann keine Ausnahme. Im Gegenteil. Die Atheisten, laut | |
der Wortherkunft „átheos“, „ohne Gott“ Lebenden, sind in Berlin die | |
absolute Mehrheit. Nur 15,9 Prozent der BerlinerInnen waren 2016 in der | |
evangelischen Kirche – 2010 lag dieser Wert noch bei 21,5 Prozent. Der | |
Anteil der Katholiken liegt mit 8,7 Prozent auf etwa gleichbleibend | |
niedrigem Niveau. | |
Einzig in Frohnau sind etwas mehr als 50 Prozent der deutschen Staatsbürger | |
Mitglied einer christlichen Kirche. Im Ostteil der Stadt bewegen sich die | |
Werte zwischen 10 und 20 Prozent. Das Erbe der DDR, als auf eine streng | |
atheistische Bildungspolitik geachtet wurde, lebt fort. | |
Aber auch im Westteil der Stadt sind weniger Menschen Mitglied einer Kirche | |
als anderswo im Land. Das ist zum einen ein Großstadtphänomen, lässt sich | |
aber auch aus der Tradition Berlins als Arbeiterstadt erklären. Linke – und | |
auch feministische – Ideen haben hier schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts | |
zur Abkehr von den Kirchen geführt. | |
Zu dem Viertel Christen kommen noch geschätzte 250.000 Muslime (6,8 | |
Prozent) hinzu, etwa 10.000 Mitglieder der Jüdischen Gemeinde und Anhänger | |
anderer Religionen. Bis zu zwei Drittel der BerlinerInnen sind damit | |
konfessionslos. Die britische Zeitung Guardian nannte Berlin kürzlich „die | |
atheistische Hauptstadt Europas“. | |
## Zivilisatorischer Fortschritt | |
Es gibt Menschen wie Kortmann, die darauf stolz sind, die das Ablegen des | |
Glaubens als zivilisatorischen Fortschritt ansehen. Sie pochen auf Wert- | |
und Moralvorstellungen, die nicht auf Religion angewiesen sind. Andere, vor | |
allem abtrünnige Christen im Westen, stehen für eine mitunter harsche | |
Kritik an der Institution Kirche. | |
Für die meisten Atheisten ist das Thema Religion dagegen einfach eines, das | |
sie nicht beschäftigt. Das zeigt sich an den nur geringen Mitgliederzahlen, | |
die Vereine wie IBKA, der Humanistische Verband oder die | |
Giordano-Bruno-Stiftung haben. | |
„Das Nicht-Interesse ist kein Grund, sich zu organisieren“, sagt Kortmann. | |
Das führt allerdings dazu, dass etwa die evangelische und katholische | |
Kirche einen Platz im Rundfunkrat des RBB haben, die Interessen von | |
Atheisten dagegen – nicht nur hier – auf der Strecke bleiben. | |
Kortmann selbst begann erst im Zuge des Volksentscheids „Pro Reli“ den | |
Privilegien der Kirchen auch öffentlich zu widersprechen. Damals, 2009, | |
wollten die Kirchen und konservative Kreise den Religionsunterricht zu | |
einem Wahlpflichtfach aufwerten. Sie scheiterten grandios. | |
Nur 14,1 Prozent der Stimmberechtigten ließen sich von der Kampagne | |
überzeugen, selbst bei den abgegebenen Stimmen kam keine Mehrheit zustande. | |
Mit einem weiterhin für alle verbindlichen Ethikunterricht bilden Berlin | |
und Brandenburg die bundesweite Ausnahme. | |
Der Bereich Bildung und Erziehung ist ein Schlüsselthema in der | |
Auseinandersetzung zwischen Religiösen und Atheisten. In Berlin scheint der | |
Kampf entschieden. Am nichtreligiösen Ritual der Jugendweihe nahmen im | |
vergangenen Jahr mehr als doppelt so viele Jugendliche teil wie an der | |
Konfirmation der evangelischen Kirche. | |
Was Kortmann allerdings beunruhigt, ist die Infragestellung des | |
Neutralitätsgesetzes. Gerade schrieb ihr der Linken-Kultursenator Klaus | |
Lederer als Antwort auf einen offenen Brief: „Ich bin gegen ein Totalverbot | |
religiöser Symbole etwa bei Lehrern. Staatliche Neutralität schließt nicht | |
unbedingt ein, dass alle Bediensteten im Öffentlichen Dienst ihre | |
Persönlichkeit verstaatlichen müssen.“ | |
## Gegen das Kreuz | |
In einem anderen Konflikt dagegen positioniert sich Lederer gegen das | |
Kreuz. Die Idee eines vergoldetes Kruzifix auf der Kuppel des | |
wiedererrichteten Stadtschlosses lehnt er ab. „An diesem Ort, wo sich keine | |
Schlosskapelle mehr befindet, ist das Kreuz unangebracht“, sagte er der taz | |
dazu. Das Humboldt-Forum solle „in der Traditionslinie der Aufklärung und | |
der Akzeptanz moderner Vielfalt stehen“. | |
Lederer wird mit dieser Position nicht allein bleiben. Die Macht der | |
Kirchen ist in der Stadt längst gebrochen, daran wird auch der Kirchentag | |
nichts ändern. „Die Berliner sind helle. Die lassen sich nicht so schnell | |
über den Tisch ziehen“, sagt Kortmann. | |
26 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Erik Peter | |
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