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# taz.de -- Essay Nato und die Türkei: Die falsche Toleranz
> Als Partner wird die Türkei immer schwieriger. Die Vorteile für die Nato
> schrumpfen immer mehr. Ist ihr Verbleib im Bündnis noch sinnvoll?
Bild: Schwer zu durchschauen: Der türkische Präsident Erdogan
Ein halbes Jahr nach dem Putsch hatten die Sozialdemokraten genug. Auf
Antrag ihrer Fraktion diskutierte der Bundestag, wie die Nato-Staaten mit
ihrem schwierigen Partner umgehen sollten. Die Regierung in Athen hatte in
den vergangenen Monaten Zeitungen verboten, Professoren entlassen und
Oppositionelle verhaftet; die Verbündeten protestierten bislang nur zaghaft
dagegen. In Bonn fragte die SPD jetzt, ob das so weitergehen kann.
Konnte es, meinte der Koalitionspartner. „Ich bin der Meinung, dass der
weitere Verbleib Griechenlands in der Nato nicht nur im deutschen
Interesse, sondern auch im europäischen und atlantischen liegt“, sagte der
CDU-Abgeordnete Hermann Kopf. „Es wäre außerordentlich bedauerlich, wenn
gerade hier, an der Südostflanke des freien Europa, eine Änderung
einträte.“
In Washington, London und Brüssel sah man das ganz ähnlich. Insgesamt
sieben Jahre, von 1967 bis 1974, hielt sich die Militärjunta in Athen an
der Macht. Demokratie und Rechtsstaat waren so lange außer Kraft gesetzt,
in der Nato durften die Griechen trotzdem bleiben.
Fünfzig Jahre später haben es die Nato-Staaten wieder mit einem schwierigen
Verbündeten zu tun. Die Türkei ist nicht Griechenland, Erdoğan kein
Putschist und seine Regierung keine Militärdiktatur. Demokratie und
Rechtsstaat wickelt aber auch er ab. Zudem behindert er die Arbeit des
Militärbündnisses, indem er als Strafe für missliebiges Verhalten zunächst
Besuche deutscher Abgeordneter bei Soldaten in der Türkei unterbindet und
dann, in der Woche des Brüsseler Nato-Treffens, auch noch die weitere
Zusammenarbeit der Organisation mit Österreich blockiert.
## Die Türkei muss keine Konsequenzen fürchten
Schon aus pragmatischen Gründen drängt sich eigentlich auch hier die alte
Frage auf: Wie kann es mit dieser Partnerschaft weitergehen? Innerhalb des
Militärbündnisses muss die Türkei 2017 aber ebenso wenig Konsequenzen
fürchten wie Griechenland 1967. Denn auch das alte Argument ist wieder da:
„Wir haben ein Interesse daran, im Südosten Europas einen Partner im
Sicherheitsbündnis zu haben, mit dem wir zusammenarbeiten können und mit
dem wir gemeinsame sicherheitspolitische Interessen haben.“ Das ist die
aktuelle Position des Auswärtigen Amts. Die übrigen Verbündeten sehen es
nicht anders.
Nun ist die geopolitische Bedeutung der Türkei, die ihr nach dem Zweiten
Weltkrieg schon die Eintrittskarte für das Militärbündnis bescherte, keine
Fantasie aus der Nato-Zentrale. Die türkische Armee ist nach der
amerikanischen die zweitgrößte im Bündnis, sie ist regelmäßiger
Truppensteller für Nato-Missionen und besitzt eine militärische
Infrastruktur, die dank westlicher Hilfe hervorragend ausgebaut ist.
Einsätze im Nahen Osten können die Verbündeten von dort aus betreiben,
siehe Luftwaffenbasis Incirlik, von wo aus die Bundeswehr bislang ihre
Aufklärungsflüge über IS-Gebiet startet.
Und das sind noch nicht die einzigen Argumente für die Nato-Mitgliedschaft
des Landes: Mit Pipelines aus Richtung des Kaukasus und des Kaspischen
Meers spielt die Türkei eine wichtige Rolle für die europäische
Energieversorgung. Über den Bosporus kann sie den Zugang vom Mittelmeer ins
Schwarze Meer und zurück kontrollieren. Und der ewig schwelende
Grenzkonflikt zwischen Türkei und Griechenland blieb gerade durch die
gemeinsame Bündnismitgliedschaft beider Länder jahrzehntelang unter
Kontrolle.
Die Nato möchte auf all das nicht verzichten – zumal eine Abkehr Ankaras
vom Westen wohl gleichzeitig eine Hinwendung des Landes zu Russland mit
sich brächte. Zugunsten des vermeintlichen strategischen Vorteils
verzichtet die Nato gegenüber der Türkei auf jegliche Demokratiepolitik und
jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten.
## Grundsätze vs. Bündnislogik
Tatsächlich tut sie sich damit aber keinen Gefallen. In der Präambel des
Nordatlantikvertrags verpflichtet sich die Nato der „Freiheit, gegründet
auf die Prinzipien der Demokratie, auf die Freiheit des Einzelnen und die
Grundsätze des Rechts“. Dass sie diese Grundsätze während des Kalten Kriegs
nur als Folklore behandelte und autoritäre Regime in den Mitgliedsländern
Griechenland, Portugal und Türkei duldete, ergibt aus der Bündnislogik
heraus noch einigermaßen Sinn: Über allem stand damals das Ziel, die
Ausbreitung des sowjetischen Herrschaftsbereiches zu verhindern. Dazu waren
alle Verbündeten recht.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs musste sich die Nato aber bewegen, um
ihre Daseinsberechtigung nicht zu verlieren. Demokratisierung und die
Verbreitung westlicher Werte rückten zumindest in der Rhetorik auf eine
Stufe mit Abschreckung und Bündnisverteidigung, sei es bei der Aufnahme
neuer Mitglieder in Osteuropa oder bei Einsätzen wie dem in Afghanistan.
Schon im Sinne der eigenen Glaubwürdigkeit verbietet es sich deshalb,
autoritäre Entwicklungen innerhalb der Nato auch heute noch zu ignorieren.
Zumal der Preis, den Brüssel für eine klare Reaktion auf den türkischen Weg
zahlen müsste, von Monat zu Monat kleiner wird. Je stärker Ankara
freidreht, desto schneller schrumpfen die Vorteile, die das Bündnis mit der
Türkei einst mit sich brachte. Türkische Militärinfrastruktur können die
Partner schon heute nicht mehr zuverlässig nutzen; das zeigen die deutschen
Pläne für den Abzug aus Incirlik. Die Eindämmungsstrategie im
griechisch-türkischen Konflikt geht auch nicht mehr recht auf, wie die
provokativen Grenzverletzungen durch die türkische Armee, die in den
vergangenen Monaten rapide zugenommen haben, zeigen.
Und als Stabilitätsanker an der Grenze zum Nahen Osten funktioniert die
Türkei ebenfalls nicht mehr. Im Gegenteil: Durch ihre Unterstützung
islamistischer Gruppen in Syrien, ihr einseitiges Vorgehen gegen Kurden in
der gesamten Region und durch Aktionen wie den Abschuss eines russischen
Kampfjets im November 2015 führt die Türkei selbst instabile Verhältnisse
herbei.
## Es fehlt der institutionelle Mechanismus
Ein antidemokratischer und feindselig eingestellter Risikofaktor im eigenen
Militärbündnis – das sollte eigentlich ausreichen, um über Konsequenzen
zumindest zu beraten. Für eine Reaktion im Rahmen der Nato fehlt aber nicht
nur der politische Wille, sondern auch der institutionelle Mechanismus.
Beim Eintritt in die Nato muss jeder Anwärter noch gewisse politische
Voraussetzungen erfüllen, wobei der Maßstab je nach strategischer Bedeutung
eines Landes mal mehr, mal weniger streng angelegt wird. Hinterher
beschränken sich die Einflussmöglichkeiten aber größtenteils auf informelle
Rüffel und bilaterale Strafmaßnahmen wie die Einschränkung von
Rüstungsexporten. Die Nato-Satzung sieht weder einen Rauswurf noch
niedrigere Sanktionsstufen wie einen temporären Ausschluss aus den
militärischen Strukturen vor.
Mit der Mitgliedschaft in der Nato verhält es sich also fast wie mit der
Ehe in Zeiten, in denen Scheidungen noch verpönt waren. Bis zur Trauung
musste sich der Mann zusammenreißen, sich regelmäßig die Haare kämmen und
ab und zu Blumen kaufen. Danach konnte er sich gehen lassen. Verheiratet
ist verheiratet, was soll die Frau schon machen?
Die Nato könnte hier von der Europäischen Union lernen. Deren Regelwerk
sieht mittlerweile ein ausdifferenziertes System vor, um auf
Fehlentwicklungen einzelner Mitgliedsländer reagieren zu können. Die
möglichen Konsequenzen reichen vom offiziellen Tadel über Bußgelder bis
zur Suspendierung der Mitgliedsrechte.
Was dieses System leisten kann, wird sich im Umgang mit Ungarn zeigen. Die
EU ließ den rechtsnationalen Ministerpräsidenten Viktor Orbán lange
gewähren; in der vergangenen Woche hat das EU-Parlament aber den ersten
Schritt zur Einleitung eines Suspendierungsverfahrens beschlossen – zum
ersten Mal in seiner Geschichte. Zur Höchststrafe wird es zwar kaum kommen,
die Hürden davor sind zu hoch. Realistisch sind höchstens punktuelle
Zugeständnisse aus Budapest. Das ist aber zumindest mehr als das, was die
Nato derzeit aus Ankara zu erwarten hat.
Das Militärbündnis hält gegenüber der Türkei still und gibt ihr damit
keinen Grund, einzulenken. Wohin diese Strategie führen kann, hat vor einem
halben Jahrhundert der Fall Griechenland gezeigt: Nach sechs Jahren
Militärjunta wäre der griechisch-türkische Konflikt um Zypern 1974 beinahe
eskaliert.
Statt Stabilität an der Südostflanke drohte ein heißer Krieg zwischen zwei
benachbarten Nato-Mitgliedern. Dass es dazu am Ende doch nicht kam und der
Zypernkonflikt stattdessen zum Zusammenbruch der Militärjunta führte, hatte
wenig mit geschickter Realpolitik der Nato-Partner zu tun. Für das
Verteidigungsbündnis war der glimpfliche Ausgang reines Glück.
26 May 2017
## AUTOREN
Tobias Schulze
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