| # taz.de -- Die Wahrheit: Halbe Kraft voraus | |
| > Hier und jetzt: Die 31. und wahre Folge der lustigen Tierwelt und ihrer | |
| > ernsten Erforschung. | |
| Bild: Dieser Salamander-Axolotl ist nicht unterzukriegen, geschweige denn klein… | |
| Der Sowjetautor Nikolai Ognjow veröffentlichte 1929 das fiktive Tagebuch | |
| eines Studenten, „Kostja Ribzew auf der Universität“. Darin findet sich ein | |
| Abschnitt über die Schwanzlurche Axolotl: Ein Moskauer Juraprof erwähnt in | |
| seiner Vorlesung das Experiment eines Sowjetprofs. | |
| Ihm sei es gelungen, ein Axolotl, dessen Lungen kaum entwickelt sind, „was | |
| ihn von der höheren Art derselben Gruppe, dem Ambystoma, unterscheidet“, in | |
| einen Ambystoma zu verwandeln, indem er ihn mit einer Schilddrüsensubstanz | |
| fütterte. So ähnlich wie dieser „biologische Prozess“ verlaufe, müsse man | |
| sich auch das neue Sowjetrecht und sein Eindringen in das Bewusstsein der | |
| Massen vorstellen. | |
| Es meldet sich daraufhin ein Milizionär zu Wort, er ist nicht an der | |
| Universität, um die Studenten zu überwachen, sondern selbst Student. Er | |
| meint, dass es auch noch eine andere Möglichkeit gäbe, aus einem Axolotl | |
| ein Ambystoma zu machen. | |
| Indem man „die biologischen Voraussetzungen“, seine Umwelt, ändert – und | |
| sich dabei fragt: „Warum sind die Lungen des Axolotl nicht entwickelt? Weil | |
| im Wasser mit all seinen Pflanzen genug Sauerstoff enthalten ist.“ | |
| ## Abgekocht ist immer gut | |
| Der Milizionär hatte deswegen die Pflanzen in seinem Axolotl-Aquarium zu | |
| Hause entfernt und immer mehr abgekochtes Wasser zugegeben. Das Axolotl | |
| starb daran nicht, sondern entwickelte währenddessen Lungen – dabei wurde | |
| es zu einem Ambystoma. Wobei sein Züchter zugeben musste, dass er es | |
| ordentlich gequält hatte in seinem lamarckistisch inspirierten Versuch, | |
| „eine höhere Art zu bekommen, aber das Ambystoma lebt – bis auf den | |
| heutigen Tag“.Man hat diese Metamorphose beim Axolotl inzwischen schon oft | |
| mit dem Schilddrüsenhormon Thyroxin hervorgerufen, „denn ihr embryonales | |
| Aussehen beruht auf einer Schilddrüsenunterfunktion,“ wie der | |
| Wissenschaftsjournalist Michael Miersch schreibt. Gelegentlich soll eine | |
| solche Umwandlung auch bei frei lebenden Axolotl vorkommen – eventuell | |
| wegen zu viel Medikamentenrückstände in ihren Gewässern. | |
| Sie leben nur in den Kanälen von Xochimilco und im Chalco-See bei | |
| Mexiko-City. Diese Gewässer waren bis zur Zerstörung durch die Spanier Teil | |
| eines ausgedehnten Systems der Azteken, von denen auch das Wort „Axolotl“ | |
| kommt, das so viel wie Wassermonster heißt. Das erste in Europa zu sehende | |
| Exemplar brachte Alexander von Humboldt mit, der es dem Pariser Museum für | |
| Naturgeschichte vermachte. | |
| Die am Gewässergrund lebende „Dauerlarve“ ist heute bei jungen Aquarianern | |
| sehr beliebt. Für Auf- und Nachzucht-Probleme und neueste | |
| Forschungsergebnisse gibt es bereits mehrere „Axolotl-Foren“ im Netz. Dort | |
| führt man übrigens den plötzlichen Mitgliederzuwachs auf den Bestseller | |
| „Axolotl Roadkill“ von Helene Hegemann zurück, die in dem 2009 erschienenen | |
| Buch ebenfalls mit dem Altern hadert – so wie auch einige Feuersalamander | |
| bei dem Züchter Wolfgang Sauer, die im Larvenstadium verbleiben. | |
| Bei Hegemanns Buchtitel handelt es sich aber um ein Missverständnis, denn | |
| das aquatisch lebende Kiementier geht nicht an Land und kann folglich auch | |
| nicht von Autos überfahren werden. Es sei denn, es verwandelt sich in ein | |
| lungenatmendes Ambystoma (Querzahnmolch auf Deutsch). Ungefähr so, wie wir | |
| es bei der Metamorphose von Kaulquappen zu Fröschen und Kröten kennen. Von | |
| denen werden alljährlich bei ihren Wanderungen über Land Zigmillionen zu | |
| „Roadkills“. Der mexikanische Axolotl ist zwar vom Aussterben bedroht, aber | |
| er stirbt nicht auf der Straße, sondern an dem immer verdreckteren Wasser | |
| seiner Seen. | |
| In Europa gibt es einen blinden Axolotl-Verwandten: den Grottenolm. Er lebt | |
| in den unterirdischen Gewässern slowenischer Karsthöhlen, wo es auch noch | |
| einen blinden Käfer gibt – mit Namen Anophthalmus hitleri. Der Hitler-Käfer | |
| ist unter rechten Sammlern so begehrt (bis zu 1.000 Dollar pro Exemplar), | |
| dass er inzwischen zu den gefährdeten Arten zählt. | |
| ## Rosafarben und grottig | |
| Der blinde Grottenolm kann aufgrund seiner trägen Lebensweise und mit | |
| reduziertem Stoffwechsel bei Nahrungsmangel fast 100 Jahre alt werden. Er | |
| wird bis zu 40 Zentimeter lang, ist rosafarben, hat gefiederte Kiemen, | |
| gehört zu den Salamanderverwandten und kann sich, obwohl er wie der Axolotl | |
| nur im Larvenstadium existiert, fortpflanzen. | |
| Berühmt wurde er durch ein Experiment des Amphibienforschers Paul Kammerer | |
| in den zwanziger Jahren. Erst kürzlich erschien eine Biografie über diesen | |
| Biologen: „Der Fall Paul Kammerer“ von Klaus Taschwer. 1972 war bereits | |
| eine Kammerer-Biografie von Arthur Koestler erschienen: „Der Krötenküsser�… | |
| 2010 wurde sie wieder neu aufgelegt. Im Nachwort schreiben die Herausgeber: | |
| „Kammerers Biologie hat, anders als die heutige Wissenschaft, noch nicht | |
| mit ‚Modellorganismen‘ operiert, sondern mit Tieren. Seine Forschung an | |
| Schwanz- und Froschlurchen steht im Blick von Tieren – im Fall der sehend | |
| gemachten blinden Grottenolme provoziert Kammerer ihn auf nachgerade | |
| gespenstische Weise.“ | |
| ## Grottenolme replugged | |
| Kammerer hatte schon als Jugendlicher großes Züchtungsgeschick bewiesen, | |
| seine blinden Grottenolme aus Slowenien hielt er in einem Becken seines | |
| Labors in der Wiener „Forschungsanstalt für experimentelle Biologie | |
| ‚Vivarium‘“ und setzte sie weißem Deckenlicht aus. | |
| Daraufhin entwickelten sie Pigmentflecken an den Stellen, wo einst ihre | |
| Augen waren. Kammerer beleuchtete ihr Becken als nächstes mit Rotlicht, wie | |
| es Fotographen in Dunkelkammern benutzen. Dieses Licht bewirkte, dass die | |
| Augen hervorkamen – und die Tiere wieder sehend wurden, auch ihre | |
| Nachkommen. | |
| Das Experiment machte Kammerer überaus populär, es folgten Einladungen zu | |
| Vortragsreisen nach Amerika. Die Sowjetunion bot ihm ein eigenes | |
| Forschungsinstitut in Moskau. Aus London kam die Nachricht, dass die | |
| Beweise für eines seiner älteren Experimente – mit Geburtshelferkröten – | |
| gefälscht seien. Ein Skandal. Kammerer ging daraufhin in den Wiener Wald | |
| und erschoss sich. | |
| Die Biologin Lisa Signorile schreibt (in: „Missgeschicke der Evolution“ | |
| 2014) im Kapitel „Grottenolme“, dass deren Augen „degeneriert“ seien und | |
| nach den ersten vier Monaten unter der Kopfhaut verschwinden, einige | |
| „Sehpigmente“ würden sich jedoch erhalten. „Sie werden in ihrer Funktion | |
| durch die Zirbeldrüse unterstützt,“ diese sei zwar kleiner als bei anderen | |
| Lurchen, „aber sie enthält das auf Rotlicht reagierende Pigment.“ Man | |
| erfährt nicht, ob es da einen Zusammenhang mit Kammerers Wiener | |
| Rotlicht-Experiment gibt. | |
| Der sowjetische Kultur-Volkskommissar, Anatoli Lunatscharski drehte nach | |
| Kammerers Tod einen Film über dessen philosophisch vielversprechende | |
| Amphibien-Experimente. In „Salamandra“ wies er den reaktionären | |
| deutsch-österreichischen Kräften die Schuld an seinem Selbstmord nach. | |
| Deutschland verbot den Film, eine deutsch-sowjetische Koproduktion. Obwohl | |
| dem sozialistischen Realismus verpflichtet, hat sie dennoch ein Happy End: | |
| Kammerer wird im letzten Augenblick von einer wissenschaftlichen Abordnung | |
| gerettet und in die Sowjetunion gebracht, wo er ungestört seine | |
| lamarckistisch-revolutionäre Forschung fortsetzen kann. | |
| Im Nachwort der Kammerer-Biografie von Koestler heißt es: „Kammerer ist | |
| eine Art Gegenheld zur etablierten Wissenschaft. Und je mächtiger diese | |
| Wissenschaft erscheint, desto mythischer, böser und fremder müssen, so | |
| Thomas Pynchon, ihre Gegenhelden sein.“ In der aktuellen Biografie wird | |
| Kammerer aber bereits als Pionier der „Epigenetik“ wissenschaftlich wieder | |
| eingemeindet. | |
| 22 May 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Helmut Höge | |
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