| # taz.de -- Die Wahrheit: Saft für Reifen | |
| > Biologie und Komik: Teil 30 unserer Serie „Die lustige Tierwelt und ihre | |
| > ernste Erforschung“ beschäftigt sich mit dem Löwenzahn und seinem Sex. | |
| Bild: Dies ist kein Symbolbild für Blumen und Bienen, es zeigt hochluzide die … | |
| Am Löwenzahn ist nur der Name tierisch. Aber zunächst dies vorweg: Der | |
| Spandauer Schuldirektor Christian Sprengel kam 1790 der geschlechtlichen | |
| Vermehrung der Blumen durch Insekten auf die Spur. Sein Buch „Das entdeckte | |
| Geheimnis der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen“ (1793) wurde | |
| jedoch lange Zeit als „absurd“ und „obszön“ abgelehnt. Sein prominente… | |
| Gegner war Goethe, der Sprengel vorwarf, die Natur zu vermenschlichen. | |
| Ähnliches galt für Hegel, als er 1830 in seiner Vorlesung „Enzyklopädie der | |
| philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ auch „Die vegetabilische | |
| Natur“ behandelte. Für ihn war es noch „eine berühmte Streitfrage in der | |
| Botanik, ob wirklich bei der Pflanze erstens Sexualunterschied, zweitens | |
| Befruchtung wie bei den Tieren vorhanden“ sei. Er entschied sich, von der | |
| Geschlechtslosigkeit der Pflanzen auszugehen, selbst bei | |
| zweigeschlechtlichen, „weil die Geschlechtsteile, außer ihrer | |
| Individualität, einen abgeschlossenen, besonderen Kreis bilden“. | |
| Zudem sah er für die „Begattung“, das heißt: Bestäubung der Blüten, kei… | |
| Notwendigkeit, es ist etwas „Überflüssiges: Luxus“, denn die Pflanzen | |
| können sich zum Beispiel auch durch Ableger, Sprossen et cetera vermehren. | |
| „Die Verstäubung ist für sich selbst Zweck der Vegetation – ein Moment des | |
| ganzen vegetativen Lebens, welches durch alle Teile geht.“ Mit anderen | |
| Worten: Da die Blüte selbst ein Moment des „Fürsichseins“ ist, kann die | |
| Pflanze als Ganzes „nie eigentlich zum Selbst kommen“. Nicht erst die | |
| Befruchtung ihrer Blüten, sondern ihr bloßer Wachstumsprozess ist bereits | |
| die „Produktion neuer Individuen“. | |
| ## Symbiose zwischen Blumen und Insekten | |
| Erst Charles Darwin verschaffte der von Sprengel entdeckten Symbiose | |
| zwischen Blumen und Insekten Geltung: In einem seiner letzten Werke „Über | |
| die Einrichtung zur Befruchtung britischer und ausländischer Orchideen | |
| durch Insekten“ (1862) urteilte er über Sprengel: „Dieses Schriftstellers | |
| eigenthümliches Werk mit seinem eigenthümlichen Titel wird oft | |
| geringschätzig beurtheilt. Er war ohne Zweifel ein Enthusiast und hat wohl | |
| auch einige seiner Ideen zu einer ausserordentlichen Länge ausgesponnen. | |
| Doch habe ich mich mittelst meiner eigenen Beobachtungen überzeugt, dass es | |
| einen gewissen Schatz von Wahrheit enthält. Und schon vor Vielen sprach | |
| Robert Brown, vor dessen Urtheil sich alle Botaniker neigen, nur mit hoher | |
| Achtung davon und bemerkt, dass nur Diejenigen darüber lachen können, | |
| welche nicht viel von der Sache verstehen.“ | |
| Hegel begriff alle geschlechtliche Vermehrung der Blumen als „Luxus“. Für | |
| den Basler Biologen Adolf Portmann war ihre Nektar- oder Saftproduktion zum | |
| Anlocken der Insekten 1962 nur noch beim Löwenzahn ein „Luxus“, den er vor | |
| allem gegen die Darwin’sche Evolutionstheorie ins Feld führte, insofern | |
| darin stets auf die Nützlichkeit abgehoben wird. | |
| Dem gegenüber gibt es jedoch laut Portmann immer wieder zwecklose, | |
| „unadressierte“ Entwicklungsphänomene. „Die ganze goldgelbe Pracht der | |
| Blüte, so nützlich sie für die zahllosen Insekten ist, die von ihr | |
| angelockt den Pollen und Nektar entnehmen, ist für die Pflanze selbst | |
| nutzlos, denn ihre Samenanlagen entwickeln sich grundsätzlich jungfräulich, | |
| d. h. ohne Befruchtung allein aus dem Erbgut der Mutterpflanze.“ Wenn die | |
| Orchidee ihre Insekten „täuscht“, dann „täuscht“ der Löwenzahn sich … | |
| selbst. | |
| In „Ein Naturforscher erzählt“ heißt es: „Das ist eine seltsame Geschic… | |
| bereits um 1903 herum haben die Botaniker das alles aufgedeckt. Es | |
| entspricht dem ausgerichteten Zweckdenken unserer Zeit, daß der Löwenzahn | |
| wohl als ein sinnreiches Beispiel der Bestäubung von Blüten durch Insekten | |
| auftritt, daß aber die großartige Unnötigkeit dieses Verfahrens in allen | |
| diesen Darstellungen kaum gewürdigt wird.“ | |
| „Worin also liegt der Sinn dieses für die Pflanze selbst unnötigen | |
| Verfahrens?“, fragt sich sein Biograf Illies. „Allein in der | |
| ‚fremddienlichen Zweckmäßigkeit‘ für die Insekten? Solcher Altruismus w�… | |
| darwinistisch erst recht unbegreiflich, denn wo sollte sein | |
| Selektionsvorteil für die Pflanze liegen?“ | |
| ## Blüte ein Ausdruck der Selbstdarstellung | |
| Portmann war es dagegen immer wichtig, zu betonen, „daß sich in den | |
| Gestalten die Lebensformen selber darstellen, daß Selbstdarstellung wohl | |
| gar die oberste Leistung ist, der die anderen dienen müssen“. In diesem | |
| Sinne deutete er auch die Blütengestalten: „Spricht sich bereits in den | |
| Blattformen das besondere der Art aus, so ist die Blüte als reichste | |
| Gestaltung erst recht ein Ausdruck dieser Selbstdarstellung.“ | |
| Die darwinistischen Biologen, die epidemieartig (über Seminararbeiten und | |
| Praktikumsaufgaben) neben unzähligen anderen auch den Wikipedia-Eintrag | |
| „Gewöhnlicher Löwenzahn“ verantworten, kennen natürlich keine wie auch | |
| immer geartete „Selbstdarstellung“ bei Tieren und Pflanzen: keine Kultur in | |
| der Natur. Immerhin nehmen sie zur Kenntnis, dass die jungfräuliche | |
| Entwicklung des Samens bei den Löwenzahnpflanzen „ungewöhnlich“ ist, | |
| insofern sie, „obwohl sie keine Bestäuber benötigen, dennoch Nektar | |
| produzieren“. | |
| Sie deuten dieses scheinbar altruistische, insektenfreundliche Verhalten | |
| des Löwenzahns jedoch dahingehend, dass diese Pflanzen „erst vor so kurzer | |
| Zeit entstanden sind, dass ihre Energie verschwendende Nektarproduktion im | |
| Laufe der Evolution noch nicht eingestellt werden konnte“. Aber wenn man | |
| zugleich davon ausgeht, dass die Blumen-Insekten-Kooperation die | |
| „höchstentwickelte“ Form der Pflanzenvermehrung ist, dann sollte man eher | |
| vermuten, dass sie gerade dabei sind, ihre „Jungfräulichkeit“ langsam | |
| aufzugeben. Vielleicht lockt der Löwenzahn Insekten aus ganz anderen | |
| Gründen mit Nektar an? | |
| ## Nektar als Segen für Nutzinsekten | |
| Man denkt nicht weiter darüber nach – der Löwenzahn ist bloß ein übles | |
| „Unkraut“, weil er dazu tendiert, ganze Wiesen mit seinen gelben Blüten und | |
| den „Pusteblumen“ zu überziehen, und man die Pflanze schwer wieder loswird. | |
| Sein Nektar ist jedoch für die Nutzinsekten (Bienen, Hummeln) ein Segen. | |
| Und aus den jungen Blättern kann man schmackhaften „Löwenzahnsalat“ mache… | |
| Für den Menschen noch „nützlicher“ ist indes sein Wurzelsaft. Aus der | |
| milchigen Flüssigkeit des russischen Löwenzahns „kok-saghyz“ gewannen die | |
| sowjetischen Botaniker einen Kautschuk-Ersatz, um das Land von Importen | |
| unabhängig zu machen. Bereits 1941 bestand ein Drittel der sowjetischen | |
| Gummiproduktion aus Löwenzahnsaft. In Deutschland stellte man, ebenfalls | |
| aus „Autarkiebestrebungen“ heraus, den Kautschuk synthetisch her – in den | |
| Buna-Werken: zuerst bei Schkopau. Es ging dabei um Reifen für | |
| Wehrmachtsfahrzeuge, aber die produzierten Mengen waren zu klein. Die | |
| geplante Produktion in Auschwitz wurde durch die Rote Armee vereitelt. | |
| Die Endfertigung geschah unter anderem im Werks-KZ Stöcken der Reifenfirma | |
| Continental. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion bemächtigten sich | |
| deutsche „Sammelkommandos“ unter der Führung von uniformierten Botanikern | |
| der sowjetischen „Kok-saghyz“-Forschungsinstitute und -felder, und Himmler | |
| ernannte sich zum „Sonderbeauftragten für Pflanzenkautschuk“. Im | |
| Pflanzenzüchtungsinstitut der SS in Auschwitz wurde damit unter der Leitung | |
| des Müncheberger Züchtungsforschers Wilhelm Rudorf weiter experimentiert, | |
| um den Kautschukanteil im Milchsaft des Löwenzahns, der einen Milliliter | |
| pro Pflanze betrug, zu erhöhen. | |
| Doch erst jetzt stellte die Hannoveraner Firma Continental auf der | |
| Frankfurter Automesse IAA erstmals einen Reifen aus „Löwenzahn-Kautschuk“ | |
| vor, damit wolle sich der Gummikonzern vom schwankenden Weltmarkt für | |
| Naturkautschuk unabhängig machen, meldete kürzlich finanzen 100. Wird man | |
| dann demnächst den Löwenzahn feldmarschmäßig anbauen? | |
| 8 May 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Helmut Höge | |
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