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# taz.de -- Die Wahrheit: Papier wie Silber
> Biologie und Komik: Teil 29 unserer Serie „Die lustige Tierwelt und ihre
> ernste Erforschung“ beschäftigt sich mit Fischchen als Läst- und
> Schädlinge
Bild: Bevorzugt glitschige Kacheln und ruft bei seinem Erscheinen Ekel hervor: …
Die Wochenzeitung Die Zeit braucht sehr viel Papier, das merkt man
spätestens, wenn man versucht, sie im öffentlichen Personennahverkehr
aufzuschlagen. Deswegen warnte die Redaktion auch als erstes vor dem
Anrücken der allseits gefürchteten „Papierfischchen“ – nahe Verwandte d…
Silberfischchen, die sich schon lange in unseren hiesigen Nasszellen
tummeln, aber sehr klein und diskret sind, überdies völlig harmlos.
Die von der Zeit „Papierfresser“ genannten Schädlinge haben es dagegen auf
die Trockenpresse, das heißt: auf Zeitungen, Bücher und vor allem Akten
abgesehen. Das ist quasi der Lebensraum der ursprünglich aus den Subtropen
stammenden „Ctenolepisma longicaudata“, was die Zeit mit „geschuppte
langschwänzige Fischchen“ übersetzte. Sie haben Holland bereits erobert,
die Vernichtung dieser papiervisjes kostet Millionen.
Bis dato kannte man die Papierfresser in Deutschland eigentlich nur als
Metapher – beispielsweise sprach man wegen der Manie alles auszudrucken vom
„Papierfresser Büro“, daneben wurden auch defekte Drucker als Papierfresser
bezeichnet, wenn sie die Seiten beschädigten und laufend „Papierstaus“
anzeigten. Der berühmte Modemacher Karl Lagerfeld, dessen Privatbibliothek
230.000 Bände umfasst, gestand der Welt von sich aus: „Ich bin ein
Papierfresser.“
## Feinstaubsauger gegen Fischchen
Aber als das Stadtarchiv von Krefeld (nahe der holländischen Grenze) der
Westdeutschen Zeitung 2017 verriet: Es stünde nun in dem Archiv voller
Akten und Dokumente der „Frühjahrsputz gegen Papierfresser“ an, da läutet…
sofort alle Glocken – mindestens der auf Ewigkeit erpichten Antiquare,
Archivare und Bibliothekare. Auch unter den Sammlern und
„Sammlungsbetreuern breitete sich Unruhe aus,“ wie die Zeit registrierte.
Die Krefelder fügten beruhigend hinzu: Dafür habe man sich jetzt für 1.400
Euro ein neues „Hygiene-Set“ angeschafft – es funktioniert wohl so ähnli…
wie ein großer Feinstaubsauger.
Die Leiterin der Archivberatungsstelle im Landesverband Rheinland, Dr.
Claudia Kauertz, begründete die Anschaffung damit, dass „der
Landschaftsverband auf Prävention“ setze. Daraus konnte man schließen, dass
die realen aus Holland rüber nach Westdeutschland machenden Papierfresser
mindestens das linksrheinische Krefeld noch nicht erreicht haben, aber doch
gewissermaßen schon vor der Tür stehen. „Die Lage ist vielleicht nicht
dramatisch, aber die Invasion ist offensichtlich“, so sagte es die Zeit in
ihrem zweiten halbseitigen Warnbericht „Die Papierfresser kommen“.
Im „gutefrage.net“ aber auch auf „parents.at“ klagen dagegen unter dem
Stichwort „Papierfresser“ vor allem Betroffene, deren Kleinkinder und
Teenager plötzlich angefangen haben, „nur noch Papier“ zu essen. Über ein
ähnliches Übel beklagen sich auch Katzenhalter auf den diversen
Katzenforen. Von chinesischen Bauern werden die Kopfarbeiter wahlweise als
„Tintenschlucker“ oder „Papierfresser“ bezeichnet, was aber beides nicht
unbedingt negativ gemeint ist.
„Fischchen sind ubiquitär“, behauptet die bildungsnahe Zeit, also sie
können quasi überall leben. Die dazugehörige Quelle, eine Untersuchung in
„properen und hygienisch einwandfreien Einfamilienhäuser in Raleigh/North
Carolina“, bewies jedoch eher das Gegenteil: „In 68 Prozent der Häuser
sammelten die Forscher Fischchen“ – das heißt doch wohl, dass die Tiere
fast durchweg „hygienisch einwandfreie Einfamilienhäuser“ brauchen.
Man erfährt allerdings nicht, um was für „Exemplare der Gattung Lepisma“ …
sich dabei handelte, anscheinend haben die US-Forscher wahllos alles, was
da kreuchte und fleuchte, eingefangen, ohne bei jedem Insekt den exakten
Fundort zu vermerken und sich die Tiere genauer anzusehen. Waren es die
glitschige Kacheln bevorzugenden Silberfischchen? Oder waren „es sich gern
hinter Backöfen gemütlich machende“ Ofenfischchen, die in den USA auch
Wohnzimmerkamine besiedeln? Beides sind sogenannte Lästlinge. Oder waren es
die gefürchteten Schädlinge: die Papierfischchen. Vielleicht waren es gar
Exemplare von allen drei Arten.
## Nachlässigkeit bei der Identifizierung
Die Zeit entschuldigt die US-Forscher ob ihrer Nachlässigkeit: Sie, die
Fischchen, seien „optisch nur recht schwer zu unterscheiden … Nicht einmal
deutsche Kammerjäger können Papierfischchen sicher identifizieren.“ Einer
machte aus der Not eine Tugend, indem er einfach als ausgewiesener
Schadinsektenexperte, wenn nicht gar als angehender Entomologe im
Praktikum, behauptete, „dass Silber- und Papierfischchen regional
unterschiedliche Namen für ein und dieselbe Art seien“.
Für den Zeit-Autor ließ diese Ignoranz nur den Schluss zu: „Noch ist
‚Ctenolepisma longicaudata‘ in der deutschen Öffentlichkeit kein Thema.“
Dabei wurden die ersten Exemplare bereits 2007 in Hamburg, dem Tor zur
Welt, entdeckt und breiteten sich seitdem im Umland aus: „Angeblich waren
sie aus Holland in einer Großpackung Toilettenpapier eingeschleppt worden.“
Apropos: Als taz-Aushilfshausmeister bezeichne ich auch die Abo-Abteilung
als Papierfresser, allerdings nur mehr für mich, weil ich unverhältnismäßig
oft „Großpackungen Toi-lettenpapier“ zu ihnen in den sechsten Stock
schleppen muss. Ferner wird in der taz der kleine Aktenschredder der
stellvertretenden Chefredakteurin als Papierfresser bezeichnet.
Bei den echten Papierfressern (aus Holland), auch „Kammfischchen“ genannt,
sieht man laut Wikipedia unter der Lupe oder dem Mikroskop drei
Borstenkämme, während die Ofenfischchen nur zwei haben und die
Silberfischchen gar keine.
## Vorbild für Volksordnung
Die Papierfischchen wurden 1905 vom Insektenforscher Karl Escherich
erstmalig beschrieben – in Südafrika. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte
Escherich, der 1933 Rektor der Münchner Universität wurde, zu den deutschen
Entomologen, die von den staatenbildenden Insekten aus eine neue
Volksordnung anvisierten. In seiner Rektoratsrede führte er dazu aus:
Sowohl der Menschen- als auch der Insektenstaat muss sich darauf
einstellen, „dass seine Bürger ganz im Sinne eines ‚survival of the
fittest‘ der Einzelnen eher ihren eigenen Nutzen zu mehren suchen, als dem
Gemeinwohl zu dienen. Das oberste Gesetz des nationalsozialistischen
Staates ‚Gemeinnutz geht vor Eigennutz‘ ist hier [u. a. im Termitenstaat]
bis in die letzte Konsequenz verwirklicht.“
Dieser „Totalstaat reinster Prägung“ ist bei den Menschen „bisher noch
nicht erreicht“. Nämlich wegen des leidigen „Individualismus“, den dann
auch der Nazistaatsrechtler Carl Schmitt für „unsozial“ und „gefährlich…
hielt und der deswegen „verschwinden“ müsse. Dazu diente Schmitt Escherichs
„speziesübergreifende Soziologie“, in der die „Gesellschaft“, als
„schwirrende, unorganisierte Masse“, dem „Staat“ als eine ebenso umfass…
wie feste Einheit entgegengesetzt wird. Dieser Staat nun muss den Einzelnen
zum „politischen Menschen“ machen, damit er sich wie das „politische
Insekt“ dienend und lustvoll der „Gemeinschaft“ unterordnet.
So stellten sich Escherich und Schmitt das vor. Und all das begann noch vor
ihrer Beschäftigung mit Termiten: mit den lichtscheuen Papierfischchen,
deren Erforschung Escherich in eine Monografie über Lepismatiden gipfeln
ließ, wofür ihm der Führer die „Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaf…
verlieh. Allerdings kannte er noch nicht das „Geisterfischchen“, das jüngst
von Biologen des Museums für Naturkunde in Chemnitz „als kleine Sensation“
entdeckt wurde. Die Biologen fanden die Insekten in einer Wohnung sowie im
Museum selbst.
24 Apr 2017
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Biologie
DDR
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Tiere
Kühe
Tierforschung
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